Staub
die Nachbarn von gegenüber beobachten konnten, wenn bei Ihnen noch Licht oder das Kaminfeuer brannte.«
»Vielleicht hat es zwischen uns beiden ja schön angefangen und ist dann aus dem Ruder gelaufen«, entgegnet Mrs. Paulsson, die offenbar eine Entscheidung getroffen hat. »Es war alles ganz unschuldig, nur ein Mann und eine Frau, die Spaß zusammen hatten. Kann sein, dass ich es ein bisschen übertrieben habe, weil ich enttäuscht von ihm war. Erst hat er mich scharf gemacht, und dann lief nichts. Er konnte nicht. Ein großer Mann wie er, und dann kriegt er keinen hoch.«
»Durchaus möglich, wenn Sie ihm ständig Bourbon nachgeschenkt haben«, merkt Scarpetta an, und sie ist ziemlich sicher, dass Marino dieser Frau nichts getan hat. Sie sieht nicht, wie das hätte möglich sein können. Das Problem ist nur, dass er immer noch befürchtet, er könnte Schuld auf sich geladen haben, weshalb ein Gespräch mit ihm ziemlich sinnlos wäre.
Scarpetta beugt sich in den Wandschrank und greift nach den Stiefeln. Als sie sie aufs Bett legt, sehen sie auf der nackten Matratze sehr groß und bedrohlich aus.
»Das sind Franks Stiefel«, sagt Mrs. Paulsson.
»Wenn Sie sie anhatten, werden wir Ihre DNS darin finden.«
»Die sind mir doch viel zu groß.«
»Sie haben mich gehört. Die DNS wird uns viel verraten.« Scarpetta geht ins Bad und holt das Tarn-T-Shirt. »Vermutlich gehört das ebenfalls Frank.«
Mrs. Paulsson schweigt.
»Wenn Sie möchten, können wir jetzt in die Küche gehen«, schlägt Scarpetta vor. »Etwas Warmes zu trinken wäre schön. Vielleicht Kaffee. Was für einen Bourbon haben Sie gestern Nacht getrunken? Eigentlich müssten Sie sich jetzt auch ziemlich elend fühlen, außer Sie haben sein Glas öfter nachgefüllt als Ihres. Marino geht es heute ausgesprochen miserabel. Er musste ärztlich behandelt werden.« Raschen Schrittes steuert Scarpetta auf den hinteren Teil des Hauses und die Küche zu.
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass er zum Arzt musste.«
»Er war beim Arzt?«
»Er wurde untersucht und fotografiert. Zentimeter um Zentimeter. Es geht ihm gar nicht gut«, antwortet Scarpetta. Als sie in die Küche kommt, bemerkt sie die Kaffeemaschine neben dem Spülbecken. Gleich daneben hat gestern noch die Hustensaftflasche gestanden, die jetzt verschwunden ist. Sie zieht die Baumwollhandschuhe aus und steckt sie wieder in die Jackentasche.
»Das geschieht ihm recht, nach dem, was er mir angetan hat.«
»Verschonen Sie mich mit Ihrer Geschichte«, meint Scarpetta und füllt die gläserne Kaffeekanne mit Leitungswasser. »Sie ist nämlich von Anfang an erlogen, und Sie können sich die Mühe sparen. Falls Sie Verletzungen haben, möchte ich die gerne sehen.«
»Wenn ich sie überhaupt jemandem zeige, dann nur der Polizei.«
»Wo haben Sie den Kaffee?«
»Keine Ahnung, was Sie sich da zusammenphantasieren, aber mit der Wahrheit hat es jedenfalls nichts zu tun«, entgegnet Mrs. Paulsson. Sie öffnet den Gefrierschrank und legt eine Tüte mit Kaffee neben die Kanne. Aus dem Küchenschrank holt sie einen Karton mit Filtern und überlässt es Scarpetta, sich selbst zu bedienen.
»In letzter Zeit scheint die Wahrheit Mangelware zu sein«, erwidert Scarpetta. Nachdem sie eine Filtertüte in die Kaffeemaschine gelegt hat, gibt sie mit einem kleinen Löffel, der sich in der Tüte befunden hat, Kaffee hinein. »Ich frage mich, woran es wohl liegen mag, dass es uns nicht gelingt, die wirklichen Hintergründe von Gillys Tod aufzudecken. Und nun ist es anscheinend auch nicht möglich, herauszufinden, was gestern Nacht tatsächlich passiert ist. Ich würde gerne hören, was Sie zum Thema Wahrheit zu sagen haben, Mrs. Paulsson. Deshalb habe ich mich heute Abend zu diesem Spontanbesuch entschlossen.«
»Ich möchte nicht über Pete sprechen«, gibt sie erbittert zurück. »Glauben Sie nicht, ich hätte es sonst inzwischen längst getan? Die Wahrheit ist, dass ich dachte, er hätte Spaß.«
»Spaß?« Scarpetta lehnt sich an eine Theke und verschränkt die Arme auf Taillenhöhe. »Wenn Sie so aussehen würden wie er heute, würden Sie vermutlich nicht von Spaß reden.«
»Sie können ja überhaupt nicht beurteilen, wie ich aussehe.«
»An Ihren Bewegungen erkenne ich, dass er Sie nicht verletzt hat. Vermutlich war er nach all dem Bourbon, den er intus hatte, nicht mehr zu allzu viel in der Lage. Das haben Sie mir gerade selbst bestätigt.«
»Haben Sie was mit ihm? Sind Sie deshalb
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