Staub
Rücken in Augenschein nehmen kann. Er überlegt, ob sie je seinen nackten Rücken angefasst hat. Hat sie nicht. Das wüsste er nämlich noch.
»Was ist mit deinen Genitalien?«, fragt sie dann, als ob das etwas Alltägliches wäre. Als er nicht antwortet, hakt sie nach: »Marino, hat sie dich an den Genitalien verletzt? Hast du da etwas, das ich fotografieren und außerdem behandeln sollte? Oder wollen wir lieber so tun, als wüsste ich aus irgendeinem Grund nicht, dass du wie die Hälfte der restlichen Menschheit männliche Genitalien besitzt? Tja, sie hat dich offenbar auch dort verletzt, denn sonst hättest du schon längst widersprochen. Richtig?«
»Richtig«, nuschelt er und hält sich die Hände zwischen die Beine. »Ja, ich habe Schmerzen. Zufrieden? Aber du hast doch jetzt genug Material, um deine Theorie zu beweisen und zu belegen, dass sie mich verletzt hat, ganz egal was ich mir, wenn überhaupt, habe zuschulden kommen lassen.«
Scarpetta setzt sich, keinen halben Meter von ihm entfernt, auf die Bettkante und sieht ihn an. »Was hältst du davon, es mir zu beschreiben. Dann können wir ja immer noch entscheiden, ob du die Hose ausziehen musst.«
»Sie hat mich gebissen. Überall. Und ich habe Blutergüsse.«
»Ich bin Ärztin«, sagt Scarpetta.
»Das weiß ich. Aber du bist nicht meine Ärztin.«
»Wenn du sterben würdest, wäre ich es. Wer, glaubst du, würde dich untersuchen und jede verdammte Kleinigkeit herausfinden wollen, wenn sie dich umgebracht hätte? Aber du bist nicht tot, wofür ich ausgesprochen dankbar bin. Allerdings wurdest du angegriffen und hast dieselben Verletzungen, die du auch haben könntest, wenn du tot wärst. Würdest du mich also bitte nachsehen und feststellen lassen, ob du ärztlich behandelt werden musst und ob Fotos nötig sind?«
»Was für eine Behandlung?«
»Vermutlich nichts, was sich nicht mit ein bisschen Betadine hinkriegen ließe. Ich besorge welches in der Apotheke.«
Er versucht, sich vorzustellen, was passieren wird, wenn sie ihn nackt sieht. Sie hat ihn noch nie nackt gesehen und weiß nicht, was er zu bieten hat oder ob er überdurchschnittlich oder unterdurchschnittlich gebaut ist, auch wenn normal unter normalen Umständen eigentlich ausreichend wäre. Er fragt sich, mit welcher Reaktion er wohl rechnen muss, weil er keine Ahnung hat, was ihr gefällt oder woran sie gewöhnt ist. Also ist es wahrscheinlich unklug, die Hose ausziehen. Dann jedoch denkt er an die Fahrt auf der Rückbank des Zivilfahrzeugs, die erkennungsdienstliche Behandlung und den Prozess und öffnet Hosenknopf und Reißverschluss.
»Wenn du jetzt lachst, werde ich dich für den Rest deines Lebens hassen«, sagt er. Sein Gesicht glüht rot, er schwitzt, und der Schweiß brennt ihm auf der Haut.
»Du armer Junge«, antwortet sie. »Dieses durchgeknallte Miststück.«
31
Ein kalter und heftiger Regen fällt, als Scarpetta am Straßenrand hält und vor Suzanna Paulssons Haus parkt. Mit laufendem Motor bleibt sie eine Weile im Wagen sitzen. Die Scheibenwischer gleiten hin und her, während sie den unebenen, mit Backsteinen gepflasterten Weg betrachtet, der zu der schiefen Veranda führt. Sie stellt sich vor, wie Marino letzte Nacht dort entlanggegangen ist. Weitere Details braucht sie sich nicht auszumalen.
Er hat ihr mehr verraten, als er glaubt. Und was sie gesehen hat, war schlimmer, als sie sich hat anmerken lassen. Auch wenn er meint, ihr nicht jede Einzelheit anvertraut zu haben, weiß sie genug. Sie schaltet die Scheibenwischer ab und sieht zu, wie die Regentropfen gegen das Glas prallen und daran herunterlaufen. Inzwischen regnet es so kräftig, dass sie nur noch ein beständiges Prasseln hört und das Wasser auf der Windschutzscheibe aussieht wie Wellen aus Eis. Suzanna Paulsson ist zu Hause. Ihr Minivan steht am Straßenrand, und im Haus brennt Licht. Bei diesem Wetter ist sie sicher nicht zu Fuß unterwegs.
In Scarpettas Mietwagen gibt es keinen Regenschirm, und sie hat keinen Hut dabei. Als sie aussteigt, wird das Prasseln schlagartig lauter, und der Regen peitscht ihr ins Gesicht, während sie die alten, glitschigen Backsteine entlanghastet, die zum Haus eines toten Mädchens mit einer sexuell gestörten Mutter führen. Vielleicht ist das Urteil »sexuell gestört« ja übertrieben. Scarpetta geht in sich, aber sie ist viel wütender, als Marino ahnt. Möglicherweise ist ihm gar nicht klar, wie wütend sie ist, aber sie kocht innerlich, und Mrs. Paulsson wird
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