Staub
einige in ihrer Reichweite. Vorsichtig bewegt sie die Metallsplitter und trennt sie von der restlichen Probe. Auf diesem Objektträger befinden sich genau drei davon, alle ein klein wenig größer als die größten Bröckchen Silizium, Stein oder Schutt. Zwei sind rot, eines ist weiß. Als sie mit der Wolframnadel weiterstochert, fördert sie noch etwas zu Tage, das ihr Interesse weckt. Sie erkennt sofort, was es ist, spricht es aber nicht gleich aus, weil sie erst auf Nummer sicher gehen will.
Es ist etwa so groß wie der kleinste Farbsplitter, graugelb, merkwürdig geformt und weder mineralisch noch aus Kunststoff. Das Teilchen erinnert an einen prähistorischen Vogel mit einem hammerförmigen Kopf, einem Auge, einem mageren Hals und einem kugeligen Körper.
»Die flachen Platten der Lamellen. Sie sehen aus wie konzentrische Kreise und sind Knochenschichten, die angeordnet sind wie die Jahresringe eines Baumes«, erklärt sie und schiebt das Teilchen ein wenig herum. »Dazu die Rillen und Kanäle der Canaliculi. Das sind die Löcher, die wir hier sehen, also die Havers’schen Kanäle oder Canaliculi, wo winzige Blutgefäße verlaufen. Wenn Sie dieses Ding unter ein Mikroskop mit Polarisator legen, müssten Sie wellenförmige, fächrige Verlängerungen feststellen. Vermutlich wird es sich unter gebrochenen Röntgenstrahlen als Kalziumphosphat entpuppen. In anderen Worten als Knochenstaub. Angesichts des Fundorts überrascht mich das nicht weiter. In dem alten Gebäude gab es sicher Knochenstaub in rauen Mengen.«
»Du heiliger Strohsack!«, ruft Eise beglückt aus. »Und ich habe mich deswegen verrückt gemacht. So ein Ding habe ich auch bei dem kranken Mädchen, also im Fall Paulsson, gefunden, wenn wir dasselbe meinen. Darf ich mal schauen?«
Sie rollt ihren Stuhl zurück und ist erleichtert, allerdings ebenso verdattert wie zuvor. » Lacksplitter und Knochenstaub mögen im Fall des Traktorfahrers Sinn ergeben, jedoch nicht bei Gilly Paulsson. Wie kann es sein, dass in ihrer Mundhöhle die identischen Spuren sichergestellt wurden?«
»Es ist dasselbe gottverdammte Zeug«, verkündet Eise mit dem Brustton der Überzeugung. »Ich zeige Ihnen die Proben vom toten Mädchen. Sie werden Ihren Augen nicht trauen.« Er nimmt einen dicken Umschlag von einem Stapel an seinem Schreibtisch, löst das Klebeband an der Lasche und nimmt einen Pappordner mit Dias heraus. »Ich habe sie immer in Griffweite, weil ich sie mir immer wieder angeschaut habe. Das können Sie mir glauben.« Er legt ein Dia unter das Mikroskop. »Rote, weiße und blaue Partikel, einige an Metallsplittern anhaftend, andere nicht.« Er schiebt das Dia herum und stellt die Schärfe ein. »Die Farbe ist in einer Schicht aufgetragen. Es handelt sich um einen harzhaltigen Lack, der allerdings nicht rein ist. Das heißt, dass der fragliche Gegenstand vermutlich ursprünglich nur weiß war und irgendwann rot, weiß und blau überlackiert wurde. Schauen Sie.«
Eise hat alle Partikel im Fall Paulsson sorgfältig isoliert, sodass sich nur rote, weiße und blaue Farbsplitter auf dem Objektträger befinden. Sie sehen so groß und bunt aus wie Bauklötzchen, sind jedoch unregelmäßig geformt. Einige haften an matt schimmerndem silbrigem Metall, andere scheinen nur aus Lack zu bestehen. In Farbe und Beschaffenheit sind sie offenbar mit denen identisch, die Scarpetta gerade in ihrer Erdprobe entdeckt hat. Scarpetta versteht die Welt nicht mehr und hat das Gefühl, dass ihr Verstand streikt. Sie kann nicht mehr klar denken, und ihr Gehirn wird immer langsamer, wie ein Computer, dem allmählich der Speicherplatz ausgeht. Sie kommt einfach nicht hinter die logischen Zusammenhänge.
»Und hier sind die Partikel, die Sie als Knochenstaub bezeichnen.« Er vertauscht die Probe mit einer anderen.
»Das stammt tatsächlich von den Proben, die von Gillys Leiche genommen wurden?« Sie muss sich noch einmal vergewissern, so unglaublich ist es.
»Keine Frage. Daran ist nicht zu rütteln.«
»Derselbe Staub.«
»Überlegen Sie nur, wie viel von diesem Zeug am alten Gebäude herumliegen muss. Mehr Staub, als es Sterne im Weltall gibt, wenn Sie erst mal anfangen, den ganzen Dreck da zusammenzukratzen«, meint Eise.
»Einige dieser Partikel scheinen alt zu sein, das Ergebnis natürlichen Abblätterns oder von Abschilferung, wenn sich die Knochenhaut zersetzt«, erklärt Scarpetta. »Sehen Sie, wie abgerundet und allmählich zulaufend die Ränder sind? Mit derartigem Staub
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