Staub
nicht genau sagen. Aber mehrere Monate sind es bestimmt nicht. Was willst du hier eigentlich noch, Marino? Nach Fingerabdrücken suchen? Das müsste doch eigentlich längst erledigt sein. Was zum Teufel hat die Polizei hier bloß getrieben?«
»Vermutungen angestellt«, erwidert er. »Mehr nicht. Ich hole meinen Koffer aus dem Auto und mache ein paar Fotos. Fingerabdrücke sichern kann ich auch. Am Fenster, am Fensterrahmen und an dieser Kommode, vor allem an der obersten Schublade. Viel mehr Möglichkeiten gibt es nicht.«
»Nur zu. Spuren verwischen können wir an diesem Tatort sowieso nicht mehr. Es waren schon zu viele Leute hier.« Ihr fällt auf, dass sie das Zimmer zum ersten Mal als Tatort bezeichnet hat.
»Ich schaue mich auch mal im Garten um«, sagt er. »Allerdings sind zwei Wochen vergangen. Also liegt da bestimmt kein Häufchen von der kleinen Sweetie mehr herum, außer es hätte in dieser Zeit kein einziges Mal geregnet, was nicht der Fall ist. Deshalb lässt sich schwer feststellen, ob es diesen vermissten Hund tatsächlich gibt. Browning hat nichts davon erwähnt.«
Scarpetta kehrt in die Küche zurück, wo Mrs. Paulsson am Tisch sitzt. Offenbar hat sie sich nicht von der Stelle gerührt, denn sie befindet sich noch in derselben Körperhaltung auf demselben Stuhl und starrt ins Leere. Sie kann doch nicht allen Ernstes glauben, dass ihre Tochter wirklich an der Grippe gestorben ist, denkt Scarpetta.
»Hat Ihnen jemand erklärt, warum sich das FBI für Gillys Tod interessiert?«, erkundigt sie sich und lässt sich Mrs. Paulsson gegenüber an dem kleinen Tisch nieder. »Was hat die Polizei dazu gesagt?«
»Ich weiß nicht. Ich schaue mir solche Sendungen nicht an«, murmelt sie.
»Was für Sendungen?«
»Krimiserien. Reportagen über das FBI. Alles, was mit Verbrechen zu tun hat.«
»Aber Sie wissen doch, dass sich das FBI eingeschaltet hat«, fährt Scarpetta, die sich allmählich Sorgen um Mrs. Paulssons Geisteszustand macht, fort. »Haben Sie mit dem FBI gesprochen?«
»Eine Frau war hier. Das habe ich Ihnen ja schon erzählt. Sie meinte, sie hätte nur ein paar Routinefragen und es täte ihr schrecklich Leid, mich in meiner Trauer stören zu müssen. So hat sie es ausgedrückt, ›in meiner Trauer‹. Wir haben genauso dagesessen wie jetzt, und sie hat mich nach Gilly und Frank gefragt und wollte wissen, ob mir jemand Verdächtiges aufgefallen ist. Ob Gilly mit Fremden oder mit ihrem Vater gesprochen hat. Und wie die Nachbarn so sind. Sie hat mich auch alles Mögliche über Frank gefragt.«
»Was, denken Sie, war der Grund dafür? Was waren das für Fragen über Frank?«, bohrt Scarpetta nach und stellt sich den blonden Mann mit dem markanten Kiefer und den graublauen Augen vor.
Mrs. Paulsson starrt auf die weiße Wand links vom Herd, als hätte sie dort etwas Auffälliges bemerkt. »Ich weiß nicht, warum sie sich für ihn interessiert hat. Aber das tun viele Frauen.« Ihre Körperhaltung wird steif und ihre Stimme schrill. »Die rennen ihm die Bude ein.«
»Und wo ist er jetzt? Ich meine, in diesem Augenblick?«
»In Charleston. Es ist, als wären wir schon seit einer Ewigkeit geschieden.« Sie beginnt, an einem Niednagel herumzuzupfen, den Blick wie gebannt auf die Wand gerichtet, als ziehe sie etwas in ihren Bann. Aber da ist nichts, absolut nichts.
»Standen er und Gilly sich nahe?«
»Sie vergöttert ihn.« Mrs. Paulsson holt tief und lautlos Luft. Ihre Augen weiten sich, und ihr Kopf fängt an zu schwanken, als könne ihr magerer Hals ihn plötzlich nicht mehr tragen. »Er kann nichts falsch machen. Im Wohnzimmer unter dem Fenster steht ein Sofa. Es ist nichts weiter als ein kariertes Sofa und hat nichts Besonderes an sich, abgesehen davon, dass es sein Lieblingsplatz war, wo er ferngesehen und Zeitung gelesen hat.« Wieder holt sie tief Luft. »Nachdem er uns verlassen hatte, ging sie immer wieder ins Wohnzimmer und legte sich auf das Sofa. Ich konnte sie kaum dazu bringen, aufzustehen.« Sie seufzt. »Er ist kein guter Vater. Aber ist es nicht immer so? Wir lieben das, was wir nicht bekommen können.«
Die Schritte von Marinos großen, schweren Stiefeln hallen, diesmal lauter, aus Gillys Zimmer hinüber.
»Wir lieben die Menschen, die unsere Liebe nicht erwidern«, wiederholt Mrs. Paulsson.
Scarpetta hat sich seit ihrer Rückkehr in die Küche keine Notizen gemacht. Ihr Handgelenk ruht auf dem Notizbuch, der Kugelschreiber in ihren Fingern bereit, verharrt aber reglos.
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