Staub
Computerrecherche durch, die sie letzte Nacht durchgeführt hat, und überlegt, ob sie ihre Tante anrufen soll. Lucy hat schon eine Weile nicht mehr mit Scarpetta telefoniert, und inzwischen fällt ihr keine glaubhafte Ausrede mehr dafür ein. Sie und ihre Tante verbringen die meiste Zeit in Südflorida und wohnen nicht einmal eine Autostunde voneinander entfernt. Im letzten Sommer ist Scarpetta von Del Ray nach Las Olas gezogen, doch Lucy hat sie nur einmal in ihrem neuen Zuhause besucht, und zwar vor einigen Monaten. Je mehr Zeit vergeht, desto schwerer fällt ihr der Anruf. Unausgesprochene Fragen werden zwischen ihnen in der Luft hängen, und sicher wird es verkrampft werden. Doch Lucy kommt zu dem Schluss, dass es nicht richtig wäre, ihre Tante unter den gegebenen Umständen nicht anzurufen. Also greift sie zum Telefon.
»Sie wollten geweckt werden«, sagt sie, als ihre Tante abhebt.
»Wenn du nicht mehr zu bieten hast … So nimmt dir das niemand ab«, erwidert Scarpetta.
»Was meinst du damit?«
»Du klingst nicht wie die Empfangsdame, und außerdem habe ich keinen Weckruf bestellt. Wie geht es dir? Und wo bist du?«
»Immer noch in Florida«, antwortet Lucy.
»Immer noch? Heißt das, du willst wieder weg?«
»Ich weiß nicht. Kann sein.«
»Wohin?«
»Ich bin nicht sicher«, entgegnet Lucy.
»Gut. Woran arbeitest du?«
»Ein Mann, der Frauen verfolgt.«
»Solche Fälle sind immer schwierig.«
»Das kannst du laut sagen. Und diesmal ist es anders als sonst. Aber ich darf nicht darüber reden.«
»Das darfst du nie.«
»Du redest doch auch nicht über deine Fälle«, sagt Lucy.
»Normalerweise nicht.«
»Und was gibt es sonst Neues?«
»Nichts. Wann treffen wir uns mal wieder? Ich habe dich seit September nicht gesehen.«
»Ich weiß … Was machst du eigentlich in der großen, bösen Stadt Richmond?«, fragt Lucy. »Worüber wird zurzeit dort gestritten? Irgendwelche neuen Denkmäler? Oder vielleicht die jüngste Deichverschönerung?«
»Ich versuche die Hintergründe des Todes eines Mädchens aufzudecken. Gestern hätte ich eigentlich mit Dr. Fielding essen gehen sollen. Erinnerst du dich an ihn?«
»Na klar. Wie geht es ihm? Ich wusste gar nicht, dass er noch dort ist.«
»Nicht sehr gut«, antwortet Scarpetta.
»Weißt du noch, wie er mich in sein Fitness-Studio mitgenommen hat und wir dort zusammen Gewichte gestemmt haben?«
»Er geht nicht mehr ins Fitness-Studio.«
»Was? Ich bin schockiert. Jack geht nicht mehr ins Fitness-Studio. Das ist ja wie … Mir fällt kein passender Vergleich ein. Siehst du, was passiert, wenn du nicht mehr da bist? Die Welt gerät aus den Fugen.«
»Heute Morgen kannst du mir nicht schmeicheln. Ich habe eine schreckliche Laune«, entgegnet Scarpetta.
Lucy bekommt ein schlechtes Gewissen. Es ist ihre Schuld, dass Scarpetta nicht in Aspen ist.
»Hast du mit Benton gesprochen?«, erkundigt sie sich beiläufig.
»Er ist beruflich beschäftigt.«
»Das bedeutet nicht, dass du ihn nicht anrufen kannst.« Das Schuldgefühl in Lucys Magen wird stärker.
»Momentan bedeutet es das.«
»Hat er dir gesagt, du sollst nicht anrufen?« Lucy stellt sich Henri in Bentons Stadthaus vor. Sie würde lauschen. Ganz sicher würde sie das. Lucy wird vor lauter Schuldgefühlen und Angst ganz flau.
»Ich bin gestern zu Jack gefahren, aber er hat nicht aufgemacht«, wechselt Scarpetta das Thema. »Ich hatte das komische Gefühl, dass er zu Hause ist. Aber er ist nicht an die Tür gegangen.«
»Was hast du getan?«
»Ich bin wieder gegangen. Vielleicht hatte er unsere Verabredung ja vergessen. Er hat ziemlich viel um die Ohren und macht sich eindeutig Sorgen.«
»Das war bestimmt nicht der Grund. Wahrscheinlich wollte er dich nicht sehen. Es könnte ja sein, dass der Zug für ihn abgefahren ist und es nichts mehr zu retten gibt. Ich habe mir erlaubt, ein bisschen in Dr. Joel Marcus’ Vergangenheit herumzuwühlen«, sagt Lucy. »Ich weiß, dass du mich nicht darum gebeten hast. Aber das hättest du vermutlich sowieso nie getan, stimmt’s?«
Scarpetta schweigt.
»Tante Kay, er ist sicher bestens über dich informiert. Also solltest du auch über ihn im Bilde sein«, fährt sie gekränkt fort. Sie ist machtlos dagegen, dass sie sich ärgert und verletzt fühlt.
»Meinetwegen«, sagt Scarpetta. »Ich finde es zwar nicht unbedingt richtig, aber verrat es mir ruhig. Schließlich kann ich nicht leugnen, dass die Zusammenarbeit mit ihm nicht unbedingt einfach
Weitere Kostenlose Bücher