Staub
Antidepressiva, doch inzwischen leidet er laut seinem Psychiater an einer co-morbiden Störung, was bedeutet, dass er jetzt nicht nur eine Störung hat, sondern gleich zwei. In St. Louis ist er auch manchmal der Arbeit ferngeblieben und nur selten gereist, aber es war zu schaffen. Das Leben vor Scarpetta war erträglich.
Im Wohnzimmer betrachtet er wieder die großen grünen Mülltonnen durch das Fenster und lauscht nach dem großen Lastwagen und den Männern darauf. Aber er hört nichts. Nachdem er seinen alten grauen Wollmantel und ein altes Paar schwarzer Handschuhe aus Schweinsleder angezogen hat, hält er an der Tür inne, um festzustellen, wie er sich fühlt. Da alles in Ordnung scheint, schaltet er die Alarmanlage ab und öffnet die Tür. Dann eilt er raschen Schrittes seine Auffahrt entlang und hält in beide Richtungen nach dem Lastwagen Ausschau. Aber er kann nichts feststellen und fühlt sich gut, als er die Tonnen neben die Garage rollt, wo sie hingehören.
Er kehrt ins Haus zurück und zieht Mantel und Handschuhe aus. Inzwischen ist er schon viel ruhiger und beinahe glücklich. Während er sich gründlich die Hände wäscht, muss er an Scarpetta denken, und er fühlt sich entspannt und in bester Stimmung, weil er seinen Willen durchsetzen wird. All die Monate hat er nur »Scarpetta hier«, »Scarpetta da« gehört und konnte dem, weil er sie nicht kannte, nichts entgegensetzen. Als der Gesundheitsminister sagte: »Es wird schwierig, wenn nicht gar unmöglich für Sie werden, in ihre Fußstapfen zu treten, und einige Leute werden Sie wahrscheinlich nur deshalb nicht respektieren, weil Sie nicht sie sind«, hat Dr. Marcus nichts darauf erwidert. Was hätte er auch sagen sollen? Er kannte sie ja nicht.
Als die Gouverneurin so gnädig war, Dr. Marcus nach seiner Ernennung in ihr Büro auf einen Kaffee einzuladen, musste er absagen. Sie hatte den Termin auf Montagmorgen festgesetzt, und das ist genau die Zeit, in der in Westham Green der Müll abgeholt wird. Natürlich konnte er ihr den Grund für seine Absage nicht nennen, es ging eben nicht, war absolut unmöglich. Er weiß noch, wie er in seinem Wohnzimmer saß, auf den großen Lastwagen mit den großen Männern lauschte und sich fragte, wie sein zukünftiges Leben in Virginia wohl aussehen würde, nachdem er eine Einladung zum Kaffee bei der Gouverneurin abgesagt hatte. Außerdem ist sie eine Frau und achtet ihn vermutlich ohnehin nicht, weil er weder weiblich noch Scarpetta ist.
Dr. Marcus ist nicht sicher, ob die neue Gouverneurin zu Scarpettas Bewunderern gehört, aber er nimmt es an. Er hatte keine Ahnung, was ihm bevorstand, als er den Posten des Chefpathologen annahm und von St. Louis hierher zog. Er hat eine Behörde voller weiblicher Pathologen und Ermittler zurückgelassen, die alle über Scarpetta im Bilde waren. Sie sagten ihm, er habe großes Glück, ihre Stelle zu ergattern, da Virginia ihr die beste Pathologie in den gesamten Vereinigten Staaten zu verdanken habe. Ein Jammer, dass sie mit dem damaligen Gouverneur nicht zurechtgekommen sei, sodass der sie schließlich gefeuert habe. Die Frauen in seinem Büro haben ihn dazu ermuntert, Scarpettas Stelle zu übernehmen.
Sie wollten ihn loswerden. Das ist ihm schon damals klar gewesen. Und sie konnten beim besten Willen nicht verstehen, warum man sich in Virginia ausgerechnet für einen angepassten, unpolitischen Menschen ohne eigenes Profil wie ihn interessierte. Er wusste genau, was seine Mitarbeiterinnen damals über ihn sagten. Sie tuschelten und befürchteten, dass es mit seiner Ernennung nicht klappen könnte, sodass sie ihn weiter auf dem Hals haben würden. Davon ist er überzeugt.
Also ist er nach Virginia gezogen, und es dauerte keinen Monat, bis er Schwierigkeiten mit der Gouverneurin bekam, und das alles nur wegen der Müllabfuhr in Westham Green. Er gibt Scarpetta die Schuld daran. Sie ist dafür verantwortlich, dass ein Fluch auf ihm lastet. Ständig muss er sich Geschichten über sie und das Gejammer anhören, weil er nicht sie ist. Kaum hatte er seinen Posten angetreten, hat er schon angefangen, sie und alles, was sie geleistet hat, zu hassen. Er ist ein Meister darin geworden, seine Verachtung zu zeigen, indem er alles verschlampen lässt, was für ihn im Zusammenhang mit Scarpetta steht, sei es nun ein Bild, eine Pflanze, ein Buch, das Verhältnis zu seinen Mitarbeitern oder ein toter Patient, dem es zu Scarpettas Zeiten als Chefin sicher besser ergangen wäre. Zu
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