Staub
rumpelt weiter die Straße entlang.
Dr. Marcus sitzt in dem riesigen Ledersessel in seinem Wohnzimmer. Ihm ist schwindelig, er ringt nach Atem, und sein Herz klopft vor Angst, während er abwartet. In Westham Green, gleich westlich von Henrico County, einem von Angehörigen der oberen Mittelschicht bewohnten Viertel, wo auch er sein Haus hat, wird der Müll montags und donnerstags gegen halb neun abgeholt. An diesen beiden Tagen kommt Dr. Marcus stets zu spät zur Mitarbeiterbesprechung, und es ist gar nicht so lange her, dass er, wenn der große Lastwagen mit den großen, finsteren Männern erschien, gar nicht zur Arbeit gegangen ist.
Inzwischen nennen sie sich Entsorgungsspezialisten, nicht mehr Müllmänner, aber der Name spielt keine Rolle. Auch nicht, welche Bezeichnung für die großen dunklen Männer mit der großen dunklen Kleidung und den großen Lederhandschuhen heutzutage politisch korrekt ist. Dr. Marcus hat eine Todesangst vor Müllmännern und ihren Lastwagen, eine Phobie, die seit seinem Umzug hierher vor vier Monaten stärker geworden ist. An den Tagen, an denen der Müll abgeholt wird, verlässt er erst das Haus, wenn der Lastwagen und die Männer da waren und wieder verschwunden sind. Seit er zu einem Psychiater in Charlottesville geht, hat es sich ein wenig gebessert.
Dr. Marcus sitzt auf dem Ledersessel und wartet darauf, dass sein Herz langsamer schlägt, Schwindel und Übelkeit nachlassen und seine Nerven keine Überreizungssignale mehr aussenden. Dann steht er, immer noch in Pyjama und Hauspantoffeln, auf. Es ist zwecklos, dass er sich anzieht, bevor die Müllabfuhr da war, denn während er sich das abscheuliche dunkle Grollen und das laute metallische Geklapper des großen Lastwagens mit den großen dunklen Männern vorstellt, schwitzt er so stark, dass er patschnass ist und vor Kälte zittert, wenn sie endlich wieder weg sind. Dr. Marcus geht über die Eichenbohlen seines Wohnzimmers und wirft durch das Fenster einen Blick auf die grünen Plastikmülleimer, die schief an der Ecke seiner Auffahrt stehen. Dann lauscht er auf den grässlichen Lärm, um sich zu vergewissern, dass der Lastwagen nirgendwo in der Nähe ist oder vielleicht sogar zurückkommt, obwohl er die Route der Müllfahrer in diesem Viertel kennt.
Inzwischen stoppt und startet der Lastwagen schon einige Straßen weiter, damit die Männer hinauf- und herunterspringen können, um die Tonnen auszuleeren. So arbeiten sie sich weiter voran, bis sie in die Patterson Avenue einbiegen. Wie es danach weitergeht, weiß Dr. Marcus nicht, und es interessiert ihn auch herzlich wenig, solange sie nur weg sind. Er starrt durch das Fenster auf seine schief stehenden Mülltonnen und kommt zu dem Schluss, dass draußen noch immer Gefahr droht.
Da er sich noch nicht bereit fühlt, das Haus zu verlassen, begibt er sich stattdessen ins Schlafzimmer, um sich zu vergewissern, dass die Alarmanlage eingeschaltet ist. Dann zieht er den nassen Pyjama aus und stellt sich unter die Dusche. Nach kurzer Zeit, als er sich sauber und aufgewärmt fühlt, zieht er sich fürs Büro an, dankbar, dass der Anfall vorbei ist. Er gibt sich Mühe, nicht daran zu denken, was passieren könnte, falls er einmal ohne Vorwarnung in der Öffentlichkeit so einen Anfall kriegt. Nein, so weit wird es schon nicht kommen. Solange er zu Hause oder in der Nähe seines Büros ist, kann er die Tür schließen und unbehelligt abwarten, bis der Sturm vorüber ist.
In der Küche nimmt er eine orangefarbene Tablette. An diesem Vormittag hat er bereits eine Klonopin und ein Antidepressivum geschluckt, doch er nimmt noch einmal 0,5 Milligramm Klonopin. In den letzten Monaten hat er die Dosis auf drei Milligramm erhöht, und er ist gar nicht glücklich darüber, von Benzodiazepinen abhängig zu sein. Sein Psychiater in Charlottesville meint, er solle sich nicht den Kopf darüber zerbrechen. Solange Dr. Marcus keinen Alkohol trinkt oder andere Drogen nimmt – und das tut er nicht –, kann ihm das Klonopin nicht schaden. Besser, er schluckt Klonopin, als dass er von seinen Panikattacken so außer Gefecht gesetzt wird, dass er sich nur noch im Haus verkriecht, seinen Job verliert oder sich blamiert, was er sich einfach nicht leisten kann. Anders als Scarpetta ist er nicht wohlhabend, und die Demütigungen, die sie einfach so wegzustecken scheint, könnte er niemals ertragen. Bevor er ihr Nachfolger als Chefpathologe von Virginia geworden ist, brauchte er weder Klonopin noch
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