Staub
ist.«
»Am interessantesten ist«, beginnt Lucy und fühlt sich schon ein wenig besser, »wie wenig Informationen es über ihn gibt. Der Typ hat kein Leben. Er wurde in Charlottesville geboren, Vater Lehrer an einer staatlichen Schule, Mutter 1965 bei einem Autounfall gestorben. Studium an der University of Virginia. Also stammt er aus Virginia und hat hier seine Ausbildung durchlaufen. Und trotzdem hat er nie an einem gerichtsmedizinischen Institut in Virginia gearbeitet, bevor er vor vier Monaten zum Chef berufen wurde.«
»Dass er bis zum letzten Sommer nie an einem gerichtsmedizinischen Institut in Virginia gearbeitet hat, hätte ich dir auch sagen können«, entgegnet Scarpetta. »Also war es überflüssig, dass du teure Recherchen durchgeführt, dich in den Pentagon-Computer gehackt oder sonst etwas angestellt hast, um mir das mitzuteilen. Außerdem weiß ich nicht, ob es klug ist, wenn ich mir das anhöre.«
»Seine Ernennung zum Chefpathologen ist absolut merkwürdig und ergibt überhaupt keinen Sinn«, spricht Lucy weiter. »Er war eine Zeit lang Privatpathologe in einem kleinen Krankenhaus in Maryland und hat erst mit Anfang vierzig eine forensische Facharztausbildung gemacht und die Zulassungsprüfung abgelegt. Beim ersten Anlauf ist er durchgefallen.«
»Wo hat er die Facharztausbildung absolviert?«
»Oklahoma City«, antwortet Lucy.
»Ich bin wirklich nicht sicher, ob ich mir das anhören sollte.«
»Eine Weile war er als forensischer Pathologe in New Mexico tätig. Keine Ahnung, was er zwischen 1993 und 1998 getrieben hat, außer dass er sich von einer Krankenschwester scheiden ließ. Keine Kinder. 1999 zog er nach St. Louis, arbeitete dort im Büro des Leichenbeschauers und siedelte anschließend nach Richmond über. Er fährt einen zwölf Jahre alten Volvo und hat noch nie ein Eigenheim besessen. Vielleicht interessiert es dich ja, dass das Haus, das er momentan gemietet hat, in Henrico County, nicht weit vom Willow-Lane-Einkaufszentrum, steht.«
»Ich will das wirklich nicht wissen«, sagt Scarpetta. »Es reicht.«
»Er wurde nie verhaftet. Ich dachte, das ist möglicherweise von Interesse für dich. Nur ein paar Strafzettel, nichts Dramatisches.«
»Das gehört sich nicht«, protestiert Scarpetta. »Ich möchte es nicht hören.«
»Kein Problem«, erwidert Lucy in dem Tonfall, den sie immer annimmt, wenn ihre Tante sie gerade entmutigt und gekränkt hat. »Das war sowieso schon das Wichtigste. Ich könnte ja noch mehr rauskriegen, aber vorläufig war das alles.«
»Lucy, mir ist klar, dass du mir helfen möchtest. Du bist wirklich ein Wunder, und ich hoffe, dass du dich niemals an meine Fersen heftest. Außerdem ist Dr. Marcus ganz und gar kein sympathischer Mensch, und der Himmel weiß, was er vorhat. Doch solange nichts auf seine mangelnden ethischen Grundsätze hinweist oder ihn zu einer Gefahr macht, möchte ich nichts über seine Vergangenheit wissen. Verstehst du das? Also brauchst du nicht weiterzusuchen.«
»Aber er ist gefährlich«, gibt Lucy, immer noch im selben Tonfall, zurück. »Wenn man einen Verlierer wie ihn auf so einen Posten setzt, muss das zu Problemen führen. Gütiger Himmel! Wer hat ihn denn bloß eingestellt? Und warum? Ich wage gar nicht, mir auszumalen, wie sehr er dich wohl hasst.«
»Ich möchte nicht darüber reden.«
»Die Gouverneurin ist doch eine Frau«, fährt Lucy fort. »Warum um alles in der Welt ernennt eine Frau so eine Flasche?«
»Ich möchte nicht darüber reden.«
»Natürlich wird die Entscheidung meistens nicht von den Politikern getroffen. Sie unterschreiben nur die Papiere, und sie hatte vermutlich Wichtigeres im Kopf.«
»Hast du mich angerufen, nur um mich aufzuregen? Warum tust du das? Bitte lass es. Ich habe so schon genug Ärger.«
Lucy schweigt.
»Lucy? Bist du noch dran?«, fragt Scarpetta.
»Ja.«
»Ich kann Telefone nicht ausstehen«, sagt Scarpetta. »Ich habe dich seit September nicht gesehen, und ich glaube langsam, du gehst mir aus dem Weg.«
24
Er sitzt, die aufgeschlagene Zeitung auf dem Schoß, in seinem Wohnzimmer, als er die Müllabfuhr hört.
Der Motor weist das typische Dieseltuckern auf, und wenn der Müllwagen am Ende der Auffahrt hält, kommt zu dem brummenden Vibrieren noch das Surren der hydraulischen Hebevorrichtung hinzu. Mülltonnen stoßen krachend an die Metallverkleidung des riesigen Müllwagens. Dann knallen die Müllmänner die leeren Tonnen schlampig wieder in die Einfahrt, und der Lastwagen
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