Staub
jeden Winter mit ihrem weißen Impala am Fuße desselben Hügels im Schnee stecken geblieben ist.
»Scarpetta«, meldet sie sich am Mobiltelefon.
»Dr. Marcus hier«, erwidert er in seinem geschliffenen, befehlsgewohnten, verbindlichen Tonfall, einer von vielen Nuancen, die er beherrscht und unter denen er frei wählen kann.
»Ja«, sagt sie. »Guten Morgen. Ich hoffe, Dr. Fielding hat Sie bereits über unsere zweite Untersuchung von Gilly Paulsson informiert.«
»Ich fürchte, ja. Er hat mich von Ihrer Meinung in Kenntnis gesetzt«, entgegnet er, betont dabei die Wörter Ihrer Meinung und bedauert es, ihre Reaktion nicht sehen zu können. So würde sich ein gerissener Verteidiger ausdrücken, während ein Staatsanwalt vermutlich Ihre Schlussfolgerungen sagen würde, um auszudrücken, dass er die Erfahrung des Experten schätzt. Ihre Meinung hingegen ist nichts weiter als eine verdeckte Beleidigung.
»Ich frage mich, ob Sie schon von den Spuren gehört haben«, fährt er fort und denkt dabei an die gestrige E-Mail von Junius Eise, der sich wie immer im Ton vergriffen hat.
»Nein«, entgegnet sie.
»Es ist wirklich recht außergewöhnlich«, sagt er bedeutungsschwanger. »Deshalb findet ja auch die Sitzung statt.« Obwohl Dr. Marcus diese Sitzung bereits gestern anberaumt hat, informiert er sie erst jetzt. »Ich würde mich freuen, wenn Sie heute Vormittag um halb zehn zu mir ins Büro kämen.« Er beobachtet, wie der alte blaue Impala zwei Häuser weiter in eine Auffahrt einbiegt, und fragt sich, warum der Wagen dort hält und wem er wohl gehört.
Scarpetta zögert, als ob dieser kurzfristige Termin ihr nicht ins Konzept passen würde. »Natürlich. In einer halben Stunde bin ich da«, antwortet sie dann.
»Darf ich fragen, was Sie gestern Nachmittag gemacht haben? Ich habe Sie gar nicht im Büro gesehen«, sagt er und schaut zu, wie eine alte schwarze Frau aus dem blauen Impala steigt.
»Papierkram und jede Menge Telefonate. Warum? Hätten Sie etwas gebraucht?«
Dr. Marcus fühlt sich ein wenig schwindelig, während sein Blick weiter auf der alten schwarzen Frau und dem blauen Impala ruht. Die große Scarpetta fragt ihn, ob er etwas gebraucht hat, als wäre sie seine Untergebene. Aber zurzeit arbeitet sie ja auch für ihn, so schwer vorstellbar das sein mag.
»Im Moment brauche ich nichts von Ihnen«, sagt er. »Wir sehen uns bei der Sitzung.« Er hängt auf, und es bereitet ihm eine große Befriedigung, ein Telefonat mit Scarpetta einfach so abzubrechen.
Die Absätze seiner altmodischen schwarzen Schnürschuhe klappern auf den Eichendielen, als er in die Küche geht und eine zweite Kanne koffeinfreien Kaffee aufsetzt. Die erste Kanne hat er zum Großteil ins Spülbecken geschüttet, weil er vor lauter Angst vor dem Müllwagen und den Männern den Kaffee völlig vergessen hatte, bis er anfing, angebrannt zu riechen. Nachdem er die Kaffeemaschine eingeschaltet hat, kehrt er ins Wohnzimmer zurück, um den Impala weiter zu beobachten.
Durch das Fenster, an dem sein großer Lieblingssessel aus Leder steht und durch das er immer hinausschaut, sieht er der alten schwarzen Frau zu, die Einkaufstüten aus dem Kofferraum des Impala hebt. Offenbar die Haushälterin, denkt er. Und es ärgert ihn, dass eine schwarze Haushälterin den gleichen Wagen fährt wie seine Mutter während seiner Kindheit. Früher war das einmal ein schickes Auto. Nicht jeder hatte einen weißen Impala mit einem blauen Streifen an der Seite, und er war stolz darauf, mit Ausnahme der Male, die der Wagen am Fuße des Hügels im Schnee stecken blieb. Seine Mutter war keine gute Fahrerin. Eigentlich hätte sie dieses Auto gar nicht fahren dürfen. Der Impala ist nach einer afrikanischen Antilope benannt, die große Sprünge machen kann und ziemlich scheu ist. Seine Mutter war schon schreckhaft genug, wenn sie zu Fuß ging. Sie gehörte nicht hinters Steuer eines Fahrzeugs, das nach einer kräftigen, scheuen Antilopenart benannt ist.
Die Bewegungen der alten Haushälterin sind bedächtig, als sie die Plastiktüten aus dem Kofferraum des Impala hebt und langsam und steifbeinig vom Auto zu einer Seitentür des Hauses geht. Dann kehrt sie wieder zum Impala zurück, um weitere Tüten zu holen, und stößt die Wagentür mit der Hüfte zu. Früher war das einmal ein schickes Auto, denkt Dr. Marcus und starrt aus dem Fenster. Der Impala der Haushälterin hat sicher schon seine vierzig Jahre auf dem Buckel und scheint gut in Schuss zu sein. Er weiß
Weitere Kostenlose Bücher