Staub
beweisen, dass sie ein Mythos, eine Hochstaplerin und eine Versagerin ist, ist bei ihm zur fixen Idee geworden. Allerdings konnte er eine Wildfremde nicht demontieren, ja, nicht einmal etwas Negatives über sie sagen, weil er sie nicht kannte.
Dann starb Gilly Paulsson, und ihr Vater schaltete den Gesundheitsminister ein, der sich wiederum sofort an die Gouverneurin wandte. Diese ihrerseits verständigte den Leiter des FBI, da sie Vorsitzende eines landesweiten Anti-Terror-Komitees ist und Frank Paulsson Verbindungen zum Ministerium für Heimatschutz hat. Schließlich musste man sichergehen, dass die kleine Gilly nicht von irgendwelchen Feinden der amerikanischen Regierung umgebracht wurde.
Das FBI kam rasch zu dem Schluss, dass man die Angelegenheit näher unter die Lupe nehmen müsse, und mischte sich sofort in die Angelegenheiten der örtlichen Polizei ein, bis die rechte Hand nicht mehr wusste, was die linke tat. So landeten einige Beweisstücke in hiesigen Labors und andere in Labors des FBI, während manche Indizien gar nicht erst sichergestellt wurden. Dr. Paulsson wollte nicht, dass Gillys Leiche freigegeben wurde, bevor alle Fakten bekannt waren. Und zu allem Überfluss wurde das Durcheinander noch von Dr. Paulssons zerrütteter Beziehung zu seiner geschiedenen Frau vergrößert. Irgendwann war die Untersuchung des Todes einer unbedeutenden Vierzehnjährigen dann derart verkompliziert und politisch überfrachtet, dass Dr. Marcus nichts anderes übrig blieb, als den Gesundheitsminister selbst um Rat zu fragen.
»Wir müssen einen anerkannten Berater hinzuziehen«, erwiderte der Gesundheitsminister. »Bevor wir noch mehr Probleme bekommen.«
»Wir haben doch so schon genug Ärger«, gab Dr. Marcus zurück. »Sobald die Polizei von Richmond erfuhr, dass das FBI mit von der Partie ist, hat sie ihre Mitarbeit eingestellt und ist in Deckung gegangen. Und um die Sache noch zu verschlimmern, wissen wir nicht, woran das Mädchen eigentlich gestorben ist. Ich halte die Todesumstände für verdächtig, aber wir kennen die genaue Ursache nicht.«
»Also brauchen wir einen Berater. Sofort. Jemand, der nicht von hier ist und der zur Not die Kastanien für uns aus dem Feuer holt. Wenn die Gouverneurin wegen dieses Falles Schwierigkeiten auf Bundesebene kriegt, werden Köpfe rollen, und meiner ist dann bestimmt nicht der einzige, Joel.«
»Was ist mit Dr. Scarpetta?«, schlug Dr. Marcus vor, und er war damals selbst überrascht, wie schnell und spontan ihm ihr Name über die Lippen kam.
»Ausgezeichnete Idee. Und ziemlich schlau«, entgegnete der Gesundheitsminister. »Kennen Sie sie persönlich?«
»Ich werde sie wohl bald kennen lernen«, sagte Dr. Marcus, und es erstaunte ihn selbst, was für ein brillanter Stratege er war.
Bis zu diesem Augenblick hätte er diese Fähigkeit nie an sich vermutet, doch da er Scarpetta nie kritisiert hatte – da er sie ja nicht kannte –, fand es niemand merkwürdig, dass er sie als Beraterin vorschlug. So rief er sie sofort, nämlich vorgestern, an. Er sagte sich voller Ingrimm, dass er Scarpetta bald gegenüberstehen würde, o ja. Und dann würde er sie abkanzeln, demütigen und so richtig mit ihr Schlitten fahren.
Er plant, ihr für alles, was im Fall Gilly Paulsson und in seiner Behörde schief gelaufen ist, sowie auch für mögliche zukünftige Ereignisse die Schuld in die Schuhe zu schieben. Dann wird die Gouverneurin gewiss vergessen, dass Dr. Marcus ihre Einladung zum Kaffee abgelehnt hat. Sollte sie ihn wieder fragen und den Termin auf einen Montag- oder Donnerstagmorgen festsetzen, wird Dr. Marcus ihr erklären, dass um diese Zeit die Mitarbeiterbesprechung in seinem Büro stattfindet, bei der er unbedingt den Vorsitz führen muss. Deshalb wäre er der Gouverneurin sehr dankbar, wenn sie die Einladung verschieben würde. Keine Ahnung, warum ihm das nicht schon beim ersten Mal eingefallen ist, doch nun weiß er, was er sagen wird.
Dr. Marcus greift zum Wohnzimmertelefon und schaut aus dem Fenster, erleichtert, dass er in den nächsten drei Tagen nicht mehr an die Müllabfuhr wird denken müssen. Er fühlt sich ausgezeichnet, als er ein kleines schwarzes Adressbuch durchblättert, das er schon so lange besitzt, dass die Hälfte der Namen und Telefonnummern darin durchgestrichen ist. Er wählt eine Nummer, blickt aus dem Fenster, sieht einen alten blauen Chevrolet Impala vorbeifahren und erinnert sich daran, dass seine Mutter während seiner Kindheit in Charlottesville
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