Staub
sind, und jetzt kann sie Marino nicht ausfindig machen. Gestern Abend war er im Polizeiclub und hat vermutlich mit Mr. Kriminaltechnik persönlich ein paar Biere getrunken. Sie hat keine Ahnung, was da gespielt wird, und Marino geht nicht ans Telefon. Sie drückt die Milchglastür auf und betritt ihren früheren Wartebereich.
Zu ihrem Schrecken sitzt Mrs. Paulsson auf dem Sofa. Sie starrt ins Leere, ihre Hände umklammern die Handtasche auf ihrem Schoß. »Mrs. Paulsson?«, sagt Scarpetta besorgt und geht auf sie zu. »Kümmert man sich schon um Sie?«
»Man hat mich zur Öffnungszeit hierher bestellt«, antwortet sie. »Und dann wurde ich gebeten zu warten, weil der Chefpathologe noch nicht da sei.«
Niemand hat Scarpetta mitgeteilt, dass Mrs. Paulsson bei der Besprechung mit Dr. Marcus anwesend sein würde. »Kommen Sie«, fordert sie sie auf. »Ich begleite Sie hinein. Sind Sie mit Dr. Marcus verabredet?«
»Ich glaube schon.«
»Ich bin es auch«, erwidert Scarpetta. »Also gehen wir wahrscheinlich zu derselben Besprechung. Kommen Sie, folgen Sie mir einfach.«
Langsam steht Mrs. Paulsson vom Sofa auf. Sie wirkt, als wäre sie müde oder hätte Schmerzen. Scarpetta wünscht sich echte Pflanzen in dem Wartebereich, nur ein paar, um eine wärmere und lebendigere Atmosphäre zu schaffen, damit die Menschen sich weniger verlassen fühlen. Auf der ganzen Welt gibt es keinen einsameren Ort als ein Leichenschauhaus. Kein Mensch sollte gezwungen sein, dort einen Besuch abzustatten, und den Betreffenden auch noch warten zu lassen ist wirklich der Gipfel. Sie drückt auf einen Knopf neben einem Fenster. Auf der anderen Seite der Scheibe befindet sich eine Theke, danach kommt ein Stück graublauer Teppich und dahinter eine Tür, die in die Verwaltung führt.
»Kann ich Ihnen helfen?«, gellt eine Frauenstimme durch die Gegensprechanlage.
»Dr. Scarpetta«, meldet sie sich an.
»Kommen Sie herein«, entgegnet die Stimme, und die Glastür rechts vom Fenster öffnet sich mit einem Klicken.
Scarpetta hält Mrs. Paulsson die Tür auf. »Hoffentlich warten Sie noch nicht lange«, meint sie zu ihr. »Tut mir Leid, dass sich niemand um Sie gekümmert hat. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich Ihnen einen gemütlicheren Sitzplatz und einen Kaffee besorgt.«
»Man hat mir geraten, früh zu kommen, wenn ich noch eine Parklücke finden wollte«, antwortet sie und blickt sich um, als sie in ein Vorzimmer kommen, wo Sekretärinnen Akten ablegen und an Computern arbeiten.
Scarpetta merkt auf Anhieb, dass Mrs. Paulsson noch nie in der Gerichtsmedizin war. Das erstaunt sie nicht. Dr. Marcus gehört nicht zu den Leuten, die viel Zeit im trauten Gespräch mit Angehörigen verbringen, während Dr. Fielding viel zu ausgebrannt ist, um sich auch noch diese emotionale Belastung aufzubürden. Sie hat den Verdacht, dass Mrs. Paulsson aus strategischen Gründen herbestellt worden ist und dass sie selbst, Scarpetta, bald allen Grund bekommen wird, sich zu ärgern. Eine Sekretärin, die in ihrer Bürokabine sitzen bleibt, bittet sie, gleich nach hinten in den Konferenzraum durchzugehen. Dr. Marcus sei ein wenig verspätet. Scarpetta fällt auf, dass die Sekretärinnen niemals ihre Bürokabinen verlassen, sodass man beim Betreten des Vorzimmers den Eindruck hat, es seien gar keine Menschen hier, sondern nur Trennwände.
»Kommen Sie«, sagt Scarpetta und berührt Mrs. Paulsson am Rücken. »Möchten Sie einen Kaffee? Wir holen uns welchen, und dann setzen wir uns schon mal hin.«
»Gilly ist noch hier«, stößt sie hervor, geht steifbeinig weiter und sieht sich ängstlich um. »Sie erlauben nicht, dass ich sie mitnehme.« Mrs. Paulsson bricht in Tränen aus und knetet nervös den Trageriemen ihrer Handtasche. »Es ist nicht richtig, dass sie noch hier ist.«
»Welche Begründung hat man Ihnen dafür gegeben?«, fragt Scarpetta, während sie auf den Konferenzraum zugehen.
»Alles ist nur Franks Schuld. Sie hat so an ihm gehangen, und er hat ihr versprochen, sie könnte zu ihm ziehen. Das wollte sie unbedingt.« Sie weint noch heftiger, während Scarpetta an der Kaffeemaschine stehen bleibt und Kaffee in Styroporbecher einschenkt. »Gilly hat dem Richter gesagt, sie möchte nach diesem Schuljahr nach Charleston ziehen. Jetzt will er sie dorthin holen.«
Scarpetta tritt mit den Bechern in den Konferenzraum und setzt sich diesmal an den Mittelteil des langen polierten Tisches. Sie und Mrs. Paulsson sind allein in dem
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