Staub
nämlich keine Unterlagen finden, in denen steht, dass er irgendwann einmal den Pilotenschein gemacht hat«, antwortet Special Agent Weber. »Also war ich ein bisschen verwirrt.« Sie lächelt.
»Viele Leute glauben, er wäre Pilot«, fährt Mrs. Paulsson fort.
»Verständlicherweise.«
»Er umgibt sich gerne mit Piloten, vor allem mit welchen vom Militär und ganz besonders mit weiblichen. Ich wusste schon immer, was er da treibt.«
»Könnten Sie das etwas genauer erklären?«, fordert Special Agent Weber sie auf.
»Oh, er führt flugärztliche Untersuchungen durch. Sie können sich das sicher vorstellen«, erwidert sie. »Dabei kommt er sich ganz toll vor. Eine Frau im Fliegeroverall spaziert in seine Praxis, und der Rest ist ja dann wohl klar.«
»Haben Sie gehört, dass er weibliche Piloten sexuell belästigt hätte?«, fragt Special Agent Weber mit ernster Miene.
»Er streitet es immer ab, und jeder glaubt ihm«, antwortet sie. »Wissen Sie, dass er eine Schwester bei der Air Force hat? Ich habe mich schon oft gefragt, ob da ein Zusammenhang besteht. Sie ist einige Jahre älter als er.«
In diesem Augenblick betritt Dr. Marcus den Konferenzraum. Er trägt wieder ein weißes Baumwollhemd, durch das ein ärmelloses Unterhemd durchschimmert, und seine Krawatte ist dunkelblau und schmal. Er blickt an Scarpetta vorbei und sieht Mrs. Paulsson an.
»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagt er in befehlsgewohntem, aber freundlichem Ton.
»Mrs. Paulsson«, sagt Dr. Scarpetta. »Das ist Dr. Marcus, der Chefpathologe.«
»Hat eine von Ihnen Mrs. Paulsson hergebeten?« Er blickt erst Scarpetta, dann Special Agent Weber an. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …«
Mrs. Paulsson steht vom Tisch auf. Ihre Bewegungen sind langsam und unsicher, als würden ihre Gliedmaßen widersprüchliche Botschaften bekommen. »Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist. Ich bin nur wegen der Papiere, wegen der kleinen herzförmigen Goldohrringe und des Lederarmbands hier.«
»Ich glaube, es war mein Fehler«, meint Scarpetta und erhebt sich ebenfalls. »Ich habe sie im Warteraum getroffen und voreilige Schlüsse daraus gezogen. Tut mir Leid.«
»Schon gut«, sagt Dr. Marcus zu Mrs. Paulsson. »Ich habe gehört, dass Sie heute Morgen vielleicht herkommen. Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.« Er lächelt herablassend. »Der Fall Ihrer Tochter wird hier mit höchster Dringlichkeit behandelt.«
»Oh«, entgegnet Mrs. Paulsson.
»Ich begleite Sie hinaus.« Scarpetta hält ihr die Tür auf. »Es tut mir wirklich Leid«, wiederholt sie, als sie über den graublauen Teppich und an der Kaffeemaschine vorbei zum Hauptflur gehen. »Hoffentlich habe ich Sie nicht in eine peinliche Situation gebracht oder aufgeregt.«
»Sagen Sie mir, wo Gilly ist.« Sie bleibt mitten auf dem Flur stehen. »Ich muss es wissen. Bitte sagen Sie mir, wo genau sie ist.«
Scarpetta zögert. Obwohl sie solche Fragen öfter hört, fällt es ihr nicht leicht, darauf zu antworten. »Gilly ist auf der anderen Seite dieser Türen.« Sie dreht sich um und zeigt auf einige Türen, die vom Flur abgehen. Dahinter befinden sich weitere Türen. Dann kommt das Leichenschauhaus mit seinen Kühl- und Gefrierkammern.
»Bestimmt liegt sie in einem Sarg. Ich habe gehört, dass es in Einrichtungen wie dieser Särge aus Fichtenholz gibt.« Mrs. Paulssons Augen füllen sich mit Tränen.
»Nein, sie liegt nicht in einem Sarg. Wir haben keine Särge hier. Die Leiche Ihrer Tochter befindet sich in einer Kühlkammer.«
»Bestimmt muss mein armes Kind schrecklich frieren«, schluchzt sie.
»Gilly spürt die Kälte nicht, Mrs. Paulsson«, tröstet Scarpetta sie. »Sie leidet nicht, und sie hat keine Schmerzen, das versichere ich Ihnen.«
»Haben Sie sie gesehen?«
»Ja«, antwortet Scarpetta. »Ich habe sie untersucht.«
»Bitte sagen Sie mir, dass sie nicht gelitten hat. Bitte.«
Aber das kann Scarpetta ihr nicht bestätigen, da es eine Lüge wäre. »Es müssen noch einige Tests durchgeführt werden«, entgegnet sie. »Die Labors werden noch eine Weile beschäftigt sein. Alle geben sich die größte Mühe, herauszufinden, was genau Gilly zugestoßen ist.«
Mrs. Paulsson schluchzt leise, als Scarpetta sie zurück in die Verwaltung begleitet und eine der Sekretärinnen bittet, ihre Bürokabine zu verlassen, um Mrs. Paulsson die Kopien der angeforderten Berichte und Gillys persönliche Habe auszuhändigen, die lediglich aus einem Paar herzförmiger
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