Staunen über den Erlöser
hatte. Vergebung für die vielen Male, wo ich am Sonntag gesagt hatte: »Das werde ich bestimmt nicht tun«, und am Montag: »Was soll’s, ich tue es doch.« Vergebung für die vielen, vielen Stunden, die ich in der Gosse und im Dreck verbracht hatte.
Sie wäre sinnlos gewesen, diese Bitte, denn was hätte der Richter mit mir machen sollen? Mich vielleicht auf ein paar Tage ins Gefängnis stecken, um mein schlechtes Gewissen zu beschwichtigen – aber Vergebung? Dafür war er nicht zuständig, das konnte er nicht.
Vielleicht ist das der Grund dafür, warum so viele von uns so viele Stunden auf dem Hügel der Reue verbringen. Wir wissen nicht, wie wir uns selbst vergeben sollen. Und so stapfen wir weiter den Hügel hinauf. Müde, das Herz voll von dem vielen Mist, den wir gebaut haben. Seufzer der Angst. Tränen der Frustration. Worte der Beschönigung. Das Stöhnen des Zweifels. Für die einen von uns liegt der Schmerz an der Oberfläche, für andere ist er tief drinnen, vergraben im Tiefkeller der bösen Erinnerungen. Eltern, Liebhaber, Kollegen. Die einen versuchen zu vergessen, die anderen, sich zu erinnern, und alle versuchen sie, über die Runden zu kommen. Wir marschieren stumm im Gänsemarsch, an den Beinen die eisernen Ketten der Schuld. Es war Paulus, der die Frage formulierte, die uns allen auf den Lippen liegt: »Wer wird mich von diesem Leben befreien, das von der Sünde beherrscht wird?« (Römer 7,24).
Am Ende des Pfades stehen zwei Bäume.
Der eine ist sturmzerzaust und ohne Laub. Er ist tot, aber noch stabil. Die Rinde ist längst abgeblättert, das Holz von den Jahren weiß gebleicht. Keine Zweige und Knospen sprießen mehr, es gibt nur noch den Stamm und ein paar kahle Äste. Und an dem stärksten Ast hängt eine Schlinge. Auf diesen Baum trug Judas sein Versagen.
Wenn er nur den Baum daneben angeschaut hätte. Auch er ist tot, auch sein Holz glatt. Aber an seinem Querbalken hängt keine Henkerschlinge. An diesem Baum wird nicht mehr gestorben; der eine Tod war genug. Ein Tod für alle.
Diejenigen unter uns, die Jesus auch verraten haben, hüten sich, Judas allzu hart zu verurteilen, weil er den falschen Baum wählte. Dass Jesus tatsächlich unsere Schultern von der Last und unsere Beine von den Ketten befreit, nach all dem, was wir ihm angetan haben – nein, es ist nicht einfach, das zu glauben. Zu glauben, dass Jesus mir tatsächlich meine Treulosigkeit vergeben kann, ist nicht einfacher, als zu glauben, dass er wirklich von den Toten auferstand. Beides ist gleich wunderbar.
Was für ein ungleiches Paar sie sind, die beiden Bäume. Nur ein paar Schritte neben dem Baum der Verzweiflung steht der Baum der Hoffnung. Direkt neben dem Tod das Leben, neben der Finsternis der Himmel, neben der Schlinge des Henkers das Kreuz des Retters.
So stehen sie nebeneinander.
Und wir stehen davor und können es schier nicht fassen. Wie kommt Jesus dazu, auf dem kahlsten Hügel des Lebens zu stehen und mit seinen ausgestreckten, nägeldurchbohrten Händen auf mich zu warten? Heilig. Verrückt. Eine Gnade, die keine Logik einfangen kann. Aber muss Gnade überhaupt logisch sein? Dann wäre es keine Gnade mehr.
Kapitel 17
Das Evangelium der zweiten Chance
Es war so ähnlich wie die berühmte Stecknadel im Heuhaufen. Oder als ob man in einer Kiste mit lauter Knöpfen eine kleine echte Perle entdeckt oder in einer Schublade voller Briefumschläge einen Geldschein.
Es war so klein, dass man es glatt übersehen konnte. Nur zwei Worte. Ich hatte den Abschnitt bestimmt schon hundert Mal gelesen, aber dies hier war mir nie aufgefallen. Vielleicht hatte ich es in meiner Begeisterung über die Auferstehung übersehen. Oder nicht richtig aufgepasst, weil doch der Auferstehungsbericht des Markus der kürzeste der vier Evangelien ist. Oder meine müden Augen hatten, da dies das letzte Kapitel im Evangelium ist, immer zu schnell gelesen, um das kleine Detail zu bemerken.
Aber das soll mir in Zukunft nicht mehr passieren. Ich habe die Stelle mit einem gelben Leuchtstift markiert und zusätzlich rot unterstrichen. Vielleicht wollen Sie das auch machen. Schlagen Sie Markus 16 auf und lesen Sie die ersten fünf Verse, wo die überraschten Frauen sehen, dass der Grabstein zur Seite gerollt ist. Genießen Sie den wunderbaren Satz des Engels: »Er ist nicht hier! Er ist von den Toten auferstanden!«, aber bleiben Sie nicht zu lange dabei stehen, sondern lesen Sie weiter. Halten Sie Ihren Kugelschreiber bereit und gehen Sie
Weitere Kostenlose Bücher