Staustufe (German Edition)
Mittelpunkt des Familienlebens sein.»
Und das war diese Küche auch gewesen. Fast jeden Abend hatten sie hier gemeinsam gegessen, Schwarzer Peter, Monopoly und später Skat gespielt, einander vorgelesen oder einfach nur geredet, stundenlang.
Bis in den letzten Jahren schleichend die Einsamkeit mit eingezogen war. Heute saß er abends als Einziger in der Küche, mit einer Zeitschrift, einer Zeitung oder dem Laptop. Die Kinder waren in ihren Zimmern, Felix am Computer, Sara hörte laute Musik. Und Carola, seine Frau, sah im Schlafzimmer Fernsehsendungen, die Winter nicht interessierten. Sogar das Essen nahm jeder für sich ein. Die Kinder mampften abends ungesundes Zeugs auf ihren Zimmern, Carola diätete ständig und aß nach dem Mittagessen meist nichts mehr. Winters Essen stand in der Mikrowelle, wenn er kam.
Er seufzte, klappte das Magazin zu und beschloss, nach seinem Sohn zu sehen.
An der Tür klopfte er. Das war früher nicht nötig gewesen. Aber die Kinder brauchten jetzt ihre Intimsphäre. Auch Felix, der Vierzehnjährige. Seit einiger Zeit trug er einen Flaumbart auf Oberlippe und Kinn.
«Einen Moment noch», rief Felix von drinnen. Winter hob die Brauen. Tatsächlich, selbst Felix hatte Geheimnisse. «Okay, du kannst jetzt», tönte es Sekunden später.
Felix saß natürlich am Computer. Auf dem Bildschirm prangte unschuldig eine leere Suchoberfläche. Garantiert hatte der Junge eben irgendein ihm peinliches Fenster geschlossen oder verdeckt. Winter spähte möglichst unauffällig hin, da entdeckte er oben auf der Karteikartenleiste des Browsers das Emblem eines sozialen Schülernetzwerks. Na, wenn es nur das war.
«Sag mal, mein Großer. Hast du eine Ahnung, wo deine Schwester im Moment ist?»
«Nö, natürlich nicht. Wahrscheinlich bei ihrem geilen Lover. Jedenfalls redet sie ständig von diesem Selim.»
«Hast du den Eindruck, dass Sara in letzter Zeit irgendwelche Probleme hat?»
Felix warf ihm einen schrägen Blick zu. Dann drehte er sich wieder zum Computer und öffnete ein neues Fenster.
«Also, ich halt mich aus dem Zickenkrieg zwischen Mami und Sara raus», erklärte er. «Und wenn du hier überleben willst, würde ich das an deiner Stelle auch tun.»
Winter war so verblüfft, dass ihm darauf keine Antwort einfiel.
«Und was treibst du gerade?», fragte er schließlich. «Langweilst du dich nicht abends, so allein?»
«Wieso allein? Da sind tausend Kumpels.» Felix deutete mit der Hand Richtung Computerbildschirm.
«Natürlich. Na, dann will ich bei deinem Social Networking nicht länger stören», sagte Winter und zog sich zurück.
Sein Handy klingelte, als er sich in der Küche deprimiert wieder hinsetzen wollte.
«Herr Winter? Hier ist Hilal Aksoy. Es tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe. Aber – ich wollte nur fragen, ist Ihre Tochter schon nach Hause gekommen?»
Was zum Teufel ging die Aksoy das an? Wollte sie wissen, ob er Sara ausgefragt hatte? Er fand das unangemessen. Um nicht zu sagen: frech.
«Nein, sie ist noch nicht zu Hause. Wieso wollen Sie das wissen?»
«Ich mache mir Sorgen. Als ich heute Nachmittag mit den Jugendlichen gesprochen habe, da kam plötzlich ein Junge auf die Idee, dass Sara mit der Polizei unter einer Decke steckt. Und plötzlich fingen die alle an, sich von Sara zu distanzieren. Ich hatte den Eindruck, dass Sara das sehr mitgenommen hat. Also, es war, als ob ihre Freunde sie quasi jetzt aus der Gruppe ausschließen wollen.»
«Okay, Frau Aksoy. Aber wenn Sie um die Uhrzeit anrufen – was wollen Sie mir eigentlich sagen?»
«Ich – wenn Sara meine Tochter wäre und sie wäre jetzt noch nicht zu Hause, also, es ist wahrscheinlich totaler Schwachsinn, aber ich würde dann wohl mal zur Griesheimer Staustufe fahren und nachsehen, ob sie da ist.»
Winter setzte sich.
«Wie kommen Sie darauf?»
«Nur so eine Idee. Ein Bauchgefühl. Und ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich hab diese Vernehmung heute nicht gut gemanagt.»
«Machen Sie sich keine Gedanken. Sie haben wirklich zu viel Phantasie. Aber danke, dass Sie angerufen haben.»
Es war wahrscheinlich Unsinn. Aksoys buntblühende Vorstellungskraft produzierte einfach stündlich neues Chaos im Getriebe. Nachdem sie Winter allerdings erst mal auf die Idee gebracht hatte … Er konnte sich auf sein Nachrichtenmagazin definitiv nicht mehr konzentrieren. Fünf Minuten versuchte er vergeblich zu lesen, dann ging Winter zur Garderobe und machte sich fertig. Er musste jetzt tatsächlich
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