Staustufe (German Edition)
Sonja hatte ihre Doktorarbeit einst im Bereich Kriminalpsychologie geschrieben. Thema: Die Verlässlichkeit von Tatzeugen im Kriminalprozess. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass Augen- oder Ohrenzeugen einer Tat weit weniger verlässlich waren als Indizienbeweise.
«Was ist dir denn aufgefallen?», fragte Lena neugierig. «Ich habe gesehen, du hast da ein paar Zettel rausgelegt.»
Manteufel seufzte und ließ sich vorsichtig wieder auf das Sofa sinken.
«Klar ist: Das Mädchen hat sich, seit sie von euch weg ist, am Griesheimer Mainufer oder in der Nähe aufgehalten. Ich denke, dass längst noch nicht alle Leute gefunden wurden, mit denen sie in dieser Zeit Kontakt hatte. Die Anwohnerbefragung wurde im Prinzip eingestellt, nachdem man auf euch gestoßen ist. Und bei der ersten Befragung konnte man noch nicht einmal ein Foto ihrer Kleidung zeigen. Bekomme ich von dir den Auftrag, all das nachzuholen?»
«Wie meinst du das, bekommst du den Auftrag?»
«Wie ich es gesagt habe. Ich würde mich als Anwältin der Familie eines unschuldig Beschuldigten ausgeben und die Leute befragen. Wenn du mir ein bisschen Geld dafür geben kannst, würde ich mich freuen. Als Anerkennung. Wenn du mir aber sagst, dass ihr kein Geld habt, würde ich es auch ohne machen. Wären zehn Euro die Stunde okay?»
Lena Serdaris hatte die Augen weit aufgerissen. Manteufel bewunderte die großen grauen Augen dieser Frau. Ihre eigenen waren nie der Rede wert gewesen. Und jetzt verschwanden sie ohnehin im Speck
«Aber klar, zehn Euro sind okay», sagte Lena mit Wärme in der Stimme. «Habe ich dir eigentlich gesagt, wie dankbar ich dir für alles bin?»
Sie stand auf, kam zur sitzenden Manteufel herüber und umarmte sie. So weit sie eben herumreichte.
«Okay, okay», murmelte Sonja Manteufel gerührt und schob sie sanft von sich weg. «Dann werde ich morgen mal sehen, was ich herausfinden kann. – Äh, Lena, mir ist übrigens noch etwas aufgefallen.»
«Ja?»
«Dieser Stolze, der Zeuge, der die Leiche entdeckt und die Polizei angerufen hat. Der spricht von einer Person, wahrscheinlich einer Frau, die er bei den Baubuden am Mainufer gesehen haben will. Sag mal, warst du das?»
Serdaris lächelte. «Ich dachte fast, dass du auf die Idee kommst. Aber nein, das war ich nicht. Um die Zeit lag ich im Bett und ahnte nichts Böses.»
Manteufel zog die Brauen hoch und ließ sie wieder sinken. «Mir kommt im Zusammenhang mit dieser Frau etwas merkwürdig vor. Du weißt nicht zufällig, wer das sein könnte? Die Beschreibung sagt dir nichts?»
«Wie wird sie denn noch mal beschrieben?»
Sonja Manteufel nahm das aussortierte Blatt und las vor: «Ungepflegt, fleckige Haut, wirkte vermummt.»
«Das hört sich ja unheimlich an», meinte Lena. «Nein, ich weiß nicht, wer das sein kann.»
«Dann werde ich es herausfinden», beschloss Manteufel. «Ich würde nämlich zu gerne mit dieser Person sprechen.»
Zur selben Zeit saß Kriminalhauptkommissar Andreas Winter allein in der Küche seiner Wohnung in der Glauburgstraße. Er versuchte vergeblich, sich auf das am Montag eingetroffene Nachrichtenmagazin zu konzentrieren, das er sonst schon am ersten Abend zu verschlingen pflegte.
Sara war wieder nicht da.
Er hatte vorgehabt, heute Abend noch einmal in Ruhe mit seiner Tochter über ihr nächtliches Ausbleiben zu sprechen. Er wollte ihr sagen, wie sehr er sich gesorgt hatte und wie glücklich er war, sie wohlbehalten wiederzuhaben. Doch erneut war sie nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Bei seiner Heimkehr um halb sechs hatte ihn seine Frau verbittert mit den Neuigkeiten konfrontiert. Da glaubte Winter noch, Sara werde bald eintrudeln. Nun aber war es fast zehn.
Falls sie auch heute nicht käme, würde er versuchen, sich in dieser Nacht keine Sorgen um ihr Leben zu machen. Aber so ging das nicht weiter. Er musste sie dann morgen nach der Schule abfangen und mit ihr reden. Ans Handy ging sie natürlich nicht. Das hatte er schon um sechs probiert.
Winter lehnte sich im Stuhl zurück und sah sich in der Küche um. Was war das früher für ein warmer, lebendiger Raum gewesen. Die gemütliche große Wohnküche mit den Holzbohlen war einer der Hauptgründe, warum sie sich vor achtzehn Jahren für diese Wohnung entschieden hatten. Für Winters Anfängergehalt war sie verdammt teuer gewesen. «Ich hasse diese kleinen Frankfurter Stehküchen», hatte seine Frau gesagt, die wesentlich zu der Entscheidung beigetragen hatte. «Eine Küche muss der
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