Staustufe (German Edition)
das zu sagen. Er hätte zum Schein auf die Erpressung eingehen sollen. Dann könnte er sich jetzt sicherer sein, dass er am Flughafen noch fortkäme.
Herbold stieg aus, kletterte über die Leitplanken auf den Fußgängerweg, lehnte sich rückwärts ans Geländer der Brücke und sah auf die Lichter der Stadt, die in den letzten Jahren seine Welt gewesen war. Hier hatte er immer hingewollt. Seit einer Klassenfahrt, die den Provinzjungen aus Treysa zum ersten Mal in die hessische Wirtschaftsmetropole geführt hatte. Sein Vater hatte Gebrauchtwagen verkauft, ein schäbiges, unglamouröses Geschäft. Er hatte höher hinausgewollt. Und es geschafft, zumindest eine Zeitlang. Goodbye, Mainhattan, dachte Herbold.
Hatte er nicht eine Flasche Wodka im Wagen? Zollfrei von der letzten Moskaureise mitgebracht?
Tatsächlich, ein ganzer Kasten Edelwodka lag im Kofferraum. Herbold nahm eine Flasche heraus, kletterte zurück zum Fußgängerweg, lehnte sich übers Geländer und sah über den weit unten liegenden Fluss, gen Westen diesmal, wo in der Ferne die Lichter der Höchster Chemiewerke blinkten. Der Wind rauschte in den Blättern der Baumriesen am Ufer, das Wasser kräuselte sich im gelben Schein der Brückenbeleuchtung. Es war schön hier, die Seele konnte Ruhe schöpfen.
Hätte ihn jemand gefragt, er hätte selbst nicht genau sagen können, warum er zwei Stunden später, in berauschtem, vielleicht sogar beglücktem Zustand, über das Geländer kletterte und sich kopfüber fallen ließ.
Der Fluss war hier nicht tief. Die Brücke aber schwebte fünfzehn Meter über dem Wasser. Herbold stieß mit dem Kopf auf das Bett des Mains, wurde sofort bewusstlos und lebte danach nicht mehr lange.
Sonja Manteufel hatte sich auf dem hellblauen Puppensofa so steif gesessen, dass sie das Gefühl hatte, sie käme nicht mehr hoch.
«Entschuldigung, Lena. Hilfst du mir mal?»
Natürlich konnte die fragile Lena keine hundertfünfzig Kilo stemmen. Aber sie half zumindest bei der Balance. Sonjas Hintern und Beine waren eingeschlafen, zwiebelten höllisch, als die Zirkulation wieder einsetzte. Hüften und Knie knarzten und schmerzten.
«Ich gehe mal ein paar Schritte», beschloss Manteufel und begann eine vorsichtige Runde durch den hellblau-weiß eingerichteten Raum. Elefant im Porzellanladen kam ihr in den Sinn. «Ist dir denn bis jetzt was aufgefallen beim Lesen?», fragte sie ihre neue Freundin beim Herumwandern.
Lena Serdaris war mit dem Packen Papier noch nicht ganz fertig. Sie legte ab, was sie in der Hand hielt.
«Ich glaube jetzt, dass es wahrscheinlich dieser Schriftsteller war. Nino kann es wohl nicht gewesen sein.» Ihr Gesicht war so entspannt wie nie in den letzten Tagen.
«Warum so sicher plötzlich?», fragte die Manteufel.
Eleni Serdaris strich sich die Haare aus dem Gesicht. «Da ist doch dieser Jugendliche, der sagt, er hat nachts nach zwei Uhr Schritte auf dem Mainuferweg gehört.»
«Richtig. Und der Schriftsteller sagt, er hat ungefähr um dieselbe Zeit was von der Brücke fallen sehen.»
«Ja, aber dem kann man ja nicht trauen. Nino und ich sind an dem Abend jedenfalls ins Kino gegangen und waren danach Essen. Zur Feier, dass alles gut ausgegangen ist. Ich sah furchtbar aus vom vielen Weinen und wollte erst nicht vor die Tür. Aber Nino hat mich überredet. Wir sind nach Mitternacht zu Hause gewesen und nicht vor eins ins Bett gegangen. Ich konnte nicht sofort einschlafen. Ich hätte es gehört, wenn Nino noch mal rausgegangen wäre. Außerdem – ich hätte ihm doch was angemerkt. Also, wenn er insgeheim die ganze Zeit gedacht hätte, ach, ich muss ja gleich noch mal los und eine Leiche beseitigen. Dann wäre er doch nicht so unbeschwert gewesen. Nein, Nino hat damit nichts zu tun. Es war alles nur ein ungünstiges Zusammentreffen.»
Sonja Manteufel wiederum überzeugte das alles überhaupt nicht. Vielleicht lag das Mädchen nachts um eins schon längst im Wasser, dachte sie. Laut dem Rechtsmediziner war das möglich. Ja, das Verbrechen hätte sogar in der Nacht davor passiert sein können. Und Sonja gab nicht viel auf Zeugen, die behaupteten, sie hätten Geräusche gehört – nachdem sie wussten, dass ein Verbrechen geschehen war. Wenn man die Fragen so stellte, wie es Kommissarin Aksoy oder ihr Kumpan Heinrich offenbar getan hatten, dann fand sich immer jemand, der eine falsche Erinnerung heraufbeschwor. Die Leute glaubten dann selbst an das, was sie gerade erfunden hatten. Das war experimentell erwiesen.
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