Staustufe (German Edition)
kannst du jederzeit zu mir kommen. Hast du mich verstanden?»
«Ja.»
Er drückte sie noch einmal.
«So, mein Mädchen. Jetzt gehen wir aber nach Hause. Wir müssen beide schlafen. Und du bist auch schon ganz durchgefroren.»
Arm in Arm, aber schweigend marschierten sie durch die Nacht zum Wagen. Als sie darin saßen und Winter den Motor anließ, zierte Sara sich plötzlich. «Ich weiß nicht, Papa. Ich will eigentlich nicht nach Hause. Kannst du mich nicht zu Magdalena oder Selim oder so fahren?»
In Winter meldete sich der Polizist und ließ ihn die Gelegenheit ergreifen: «Wo wohnt denn dieser Selim?»
«Am Main.»
Für Winter war das ein neuer Schreck. «Was? Hier am Main?»
«Nein, in der Stadt. Untermainkai, neben dem Holbeinsteg.»
Direkt gegenüber dem Städel gelegen, war das eine verdächtig gute Adresse. Mit legal verdientem Geld konnte sich jemand wie dieser Selim dort doch sicher keine Wohnung leisten. Und bei Winter meldete sich noch ein ungutes Gefühl. Es rührte vom Wort Holbeinsteg her. Denn das Erste, was Winter letzten Samstag gedacht hatte, als er das Mainmädchen gesehen hatte, war: Die ist in der Stadt von einer Brücke ins Wasser geworfen worden. Im Geiste hatte er den Holbeinsteg vor sich gesehen, der als reine Fußgängerbrücke zwischen Innenstadt und Museumsmeile nachts sehr einsam war. Und wenn die Spurensicherung sich getäuscht hatte, wenn das Mainmädchen doch in der Stadt und nicht hier draußen in den Main gelangt war …
Winter zwang sich, die Sache vorläufig zu ignorieren.
«Weißt du was, Hase? Da heute Nacht nicht der Selim gekommen ist, um dich abzuholen, sondern ich, fährst du jetzt nicht zu Selim. Sondern du fährst mit deinem alten Vater nach Hause. Okay?»
«Ich hab aber keinen Bock, dass ihr mich wieder zusammenscheißt.»
«Heute scheißt dich niemand zusammen. Das versprech ich dir. Wir trinken einen Kakao zusammen, und dann gehen wir beide einfach nur ins Bett.»
Kakao. Das Tröstmittel aus Saras Kindheit. Es wirkte.
«Okay», sagte sie.
«Es wird alles wieder gut», sagte er und legte seine Hand auf ihre.
Diesen Selim würde er sich morgen vornehmen. Mit den Informationen, die er jetzt hatte, würde er ihn leicht finden.
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9
In der Frühe um kurz nach sieben bog Sonja Manteufel bei den roten Backstein-Reihenhäusern unterhalb der Staustufe auf den Uferweg. Das Ufer war hier steil und mit Bohlen abgestützt, weil man sich am tiefgelegenen Unterwasser der Staustufe befand. Neben dem Weg führte eine Steinmauer entlang. Sie befestigte die noch höher gelegenen, hochwassergeschützten Anliegergrundstücke. Das Erste, was Sonja Manteufel auffiel, war die milde Temperatur. Es wirkte drei, vier Grad wärmer als in der Straße, aus der sie gerade gekommen war. Die geschützte Südlage war wahrscheinlich der Grund sowie das Flusswasser, das im Herbst noch lange die Wärme hielt. An der Mauer blühten zur Unzeit Forsythien und ein anderer honigduftender Busch. In den Gärten dahinter sah sie Rosen in später Blüte.
Auf einem der Grundstücke befand sich ein uriger Steingarten. Bemooste Findlinge lagen herum. Kleinere, abgerundete Mainkiesel säumten kahle Beete. Sonja stutzte. Kam von hier vielleicht der Stein, mit dem man das Gesicht des Mädchens zertrümmert hatte? Eine spontan sich ergebende Gelegenheit. Nichts Geplantes.
Um einen Totschlag zu begehen und dabei unerkannt zu bleiben, konnte man in Frankfurt jedenfalls kaum eine bessere Gegend finden. Nach Westen hin gab es keine Häuser, nur Bäume und Gebüsche. Und selbst bei den ersten Häusern, wo Sonja jetzt stand, gab es am steilen Ufer genügend schlecht einsehbare Ecken, darunter eine fünf Meter tiefer gelegene Anlegestelle. Die war praktisch nur von der Brücke der Staustufe aus zu sehen, deren Pfeiler sich gen Osten drohend in den blassen Morgenhimmel reckten. Mitten in dem hier über zweihundert Meter breiten Fluss lag die lange, dicht mit Bäumen bestandene Insel, die Personen am anderen Ufer den Blick hierher versperrte. Die Frachtschiffe fuhren auf der anderen Seite der Insel.
Sonja umkreiste einige der schon halb kahlen Gebüsche in dem schlecht einsehbaren Zipfel. Die aufgewühlten Stellen stammten sicher von der Polizei, die hier ebenfalls den Tatort vermutete. Einmal sah sie eine Ratte vorbeihuschen und erschauerte. Ansonsten gab es nichts zu entdecken.
Schnaufend vor Anstrengung und mit schmerzenden Gliedern kämpfte sich Sonja Manteufel auf dem Uferweg
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