Staustufe (German Edition)
voran. Sie musste von den hundertfünfzig Kilo runter. Mit hundertdreißig war sie noch beweglicher gewesen. Endlich erreichte sie die Betontreppen zur Staustufe. Nein, sie würde hier nicht hochklettern. Zwischen Betonaufgang und Ufermauer lag eine düstere Stelle mit vielen Graffiti. Sie blieb stehen, las. Bosna Power. Tayfun und Selina. I love you Tarkan. Sara, I love you forever.
Sara? Es gab eine Aktennotiz zu einer Sara, die das Mainmädchen gekannt hatte. Natürlich gab es tausend Mädchen, die so hießen. Jahrelang war Sara einer der beliebtesten Vornamen der Deutschen gewesen. Der Name ausgerechnet, den man Jüdinnen einst zwangsweise in den Pass geschrieben hatte. Nun, wiederum auch ein Fortschritt. Trotzdem: Sonja bezweifelte, dass man in diesem Land überhaupt noch wusste, dass Sara ein jüdischer Name war.
Auf der Oberwasserseite der Staustufe blieb sie wieder stehen. Plötzlich war die Umgebung nicht mehr unheimlich, sondern schön. Kein steiles Ufer mit dunklen Bohlen mehr. Der Wasserstand war ja fünf Meter höher als auf der anderen Seite. Ein weiter Blick auf die Stadt und die im Nebel aufgehende Sonne. Die spiegelglatte Wasserfläche glänzte silbern, rosa und hellblau im Morgenlicht. Im aufsteigenden Dampf glitten Schwäne dahin. Das reinste Idyll.
Doch es war kein Spaziergänger oder Jogger weit und breit zu sehen. Genau die hatte Sonja hier treffen und befragen wollen: Leute eben, die regelmäßig früh hier langkamen und vielleicht auch an jenem Morgen etwas beobachtet hatten. Sonja seufzte und zog den Reißverschluss ihres Anoraks höher. Sie war von dem bisschen Gehen nass geschwitzt und fröstelte. Aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sie würde den gesamten Griesheimer Mainuferweg bis zur Autobahnbrücke abwandern müssen. In der Ferne sah sie das Hausboot des Schriftstellers.
Fast genau auf der Höhe des Bootes traf sie fünfzehn mühsame Minuten später endlich auf Menschen. Und wer war es? Ihre Wohnungsnachbarn, das kinderreiche Paar Klinger/Rölsch. Nicht dass sie bislang engen Kontakt zu den Leuten gepflegt hätte. Die Klinger/Rölschs standen samt Schäferhund, aber ohne Kinder an einer leeren Bootsanlegestelle. Sie fütterten Enten und Schwäne aus einer großen Altbrottüte. Das Geflügel ließ sich von dem lammfrommen Hund nicht im Geringsten bei der Mahlzeit stören.
«Morgen», sagte Sonja Manteufel betont munter und stellte sich dazu. Herr Klinger ignorierte sie. Frau Rölsch grüßte aufgesetzt höflich zurück. «Das ist ja schön hier morgens», begann Sonja kurzatmig ein Gespräch.
«Jo, bloß ein bissel kalt», erwiderte Frau Rölsch grimmig.
Sonja fiel unter den Futtergästen eine buntgezeichnete kleine Gans auf, die nach dem ersten Preis bei einem Zuchtwettbewerb aussah, aber gewiss nicht nach Wildtier. «Was ist denn das für ein Vogel?», fragte sie und zeigte darauf.
«Ja, da staune Sie!», sagte Frau Rölsch mit Besitzerstolz. «Des ist eine Nilgans! Die brüten jetzt hier. Mir habbe des auch erst im Internet nachgeguckt. Sonst hätt ich’s net geglaubt.»
Frau Rölsch war jetzt aufgetaut, und Sonja konnte nach dem fragen, was sie wirklich interessierte: Ob sie das auch mitbekommen hätten mit dem toten Mädchen?
Ja, das hätten sie. Sie seien an dem Morgen lange draußen geblieben, um die Polizeiarbeit zu beobachten. «Isch hab mir da fast die Blase verkühlt», berichtete Frau Rölsch.
Ob sie an dem Morgen, bevor die Polizei kam, eine Person gesehen hätten, wahrscheinlich eine Frau, die allein am Main gewesen sei und etwas vermummt gewirkt habe, fettige Haare, ungepflegte Haut. (Diese Beschreibung ging Sonja Manteufel nicht leicht über die Lippen – ihre eigenen Haare fühlten sich schweißnass an, und sie wusste genau, wie ungepflegt sie selbst generell wirkte.)
Frau Rölsch versuchte den Blick ihres Mannes zu erhaschen. Doch der zeigte keine Reaktion und verteilte stur weiter Brotbrocken. Also antwortete sie selbst. «Meinen Sie die mit den roten Backen, die hier immer morgens spazieren geht? Die so schnell und zackig marschiert? Walking oder wie man des nennt.»
«Vielleicht meine ich die.» Sonja erinnerte sich, dass der Zeuge Stolze ausgesagt hatte, die Unbekannte sei sehr schnell von der Staustufe fortgegangen. Vielleicht hatte sie einfach nur ihren Sport gemacht.
«Die sehen wir hier oft. Wirft uns immer böse Blicke zu, weil wir füttern, obwohl’s verboten ist.» Frau Rölsch zeigte auf ein Schild: Füttern der Vögel verboten wegen
Weitere Kostenlose Bücher