Steels Duell: Historischer Roman (German Edition)
Moment hoch oben auf einem Wehrgang der westlichen Befestigungen stand, ahnte er, dass es nicht gut bestellt war um die Franzosen. Natürlich hatte er die ganze Zeit gewusst, dass Ostende früher oder später fallen würde – sofern nicht ein Wunder geschähe. Dieses Wunder, so hatte Malbec zwischenzeitlich geglaubt, hätten Duguay-Trouins Schiffe vollbringen können. Doch bislang hatte der Major keinen der Segler zu Gesicht bekommen und fragte sich, ob der Pirat nicht vielleicht die Flucht ergriffen hatte. Denn was bedeutete eine Stadt wie Ostende einem Kaperfahrer?
Reumütig erkannte Malbec, dass er besser beraten gewesen wäre, diesem Mann nicht zu vertrauen. Aber die Aussicht, einen Teil der englischen Navy vor der Kanalküste zu versenken, war verlockend gewesen. Natürlich hatte Malbec dem Piratenkapitän auch verraten, wo Lejeune steckte. Er vermutete, dass der Lieutenant inzwischen das Zeitliche gesegnet hatte. Der junge Narr hatte es nicht besser verdient, obwohl Malbec hoffte, dass Trouin nicht zu grausam vorgegangen war. Lejeune war einfach nicht für die Armee gemacht, hatte das Kriegswesen nie richtig begriffen. Für Malbec gab es nur eine Maxime: Wenn man das System durchschaut hatte, konnte man mit dem Strom schwimmen und sich Vorteile verschaffen. Wenn man aber ein zu gutes Herz hatte, endete man wie Lejeune. Totes Fleisch.
Malbec ließ den Blick über die Festungsmauern gleiten und sah dann hinaus aufs Meer, das im frühen Licht des Morgens glitzerte. Die englischen Schiffe lagen vor Anker. Als er sich zur Stadt umdrehte, bot sich ihm indes ein weniger friedvoller Anblick. Tief unter ihm, sowohl in dem grasbewachsenen Graben zwischen den Mauern als auch in dem Gewirr aus Straßen und Gassen, lagen die Toten und Verwundeten. Direkt unterhalb der Westbastion lieferte sich eine niederländische Infanteriekompanie ein Feuergefecht aus kurzer Distanz mit einer Truppe Franzosen und Wallonen. Malbec beobachtete, wie die Niederländer feuerten und ein halbes Dutzend Mann aus den französischen Reihen niedermähten. Während auf niederländischer Seite nachgeladen wurde, feuerten die Verteidiger und erzielten eine ähnliche Wirkung. Und so, sinnierte Malbec, würde es noch eine Weile weitergehen, bis eine Seite genug hatte und die Flucht ergriff. So lief es immer. So kannte er es seit zwanzig Jahren.
Er überraschte sich bei dem Gedanken, ob es den Menschen je gelingen mochte, ihre Streitigkeiten auf andere Weise zu regeln. In diesem konkreten Fall sah es ganz danach aus, als würden die Niederländer den Sieg davontragen. Vielleicht wäre er selbst erfolgreicher. Er wandte sich seinen eigenen Männern zu, Veteranen der französischen Infanterie, die entlang der Mauern positioniert waren und zusätzlich hinter mit Erde gefüllten Gabionen Schutz gefunden hatten. Eins wusste Malbec genau: Wenn der Feind diesen Bereich der Stadt einnehmen wollte, müssten sie erst diese Stellung sichern. Und er hatte die Absicht, sich bis zum letzten Mann zu widersetzen.
Zwar bezweifelte er, dass er überleben würde, aber im Verlauf der letzten Tage war ihm bewusst geworden, dass das Leben für ihn ohnehin nicht mehr lebenswert war. Genauso gut könnte er sterben, hier in einer Stadt wie Ostende. Er richtete seine Schärpe, wischte Ascheflocken von seiner Uniform, die durch die Luft segelten, und fragte sich erneut, ob Trouin wohl die Flotte angreifen würde. Wahrscheinlich war es jetzt zu spät für ihn und seine Männer. Lärm von einer der Treppenaufgänge verriet ihm, dass er bald wieder in ein tödliches Gefecht verwickelt würde. Er erblickte seinen Sergeant, den großen Kerl aus dem Elsass, Müller, den kahlköpfigen Fassbinder.
»Müller!«, rief er ihn an. »Die Männer sollen erst schießen, wenn der Feind bis auf zwanzig Schritte herangekommen ist. Zwanzig. Keinen Schritt mehr, verstanden? Ich will, dass jede Kugel ihr Ziel findet!«
Schon stürmte der erste rot uniformierte Angreifer um die Ecke auf dem Wehrgang. Über den Lärm des Getümmels in den Straßen rief Malbec den Befehl: »Fertig machen! Anlegen! Feuer!«
Vierzig Musketen spien Feuerzungen und Blei, und wie Malbec es vorausgesehen hatte, gingen die ersten Feinde zu Boden.
***
Das kleine Boot glitt erstaunlich leicht über die dunklen Wasser der Hafeneinfahrt. Steel wägte das Für und Wider seines gewagten Unterfangens ab. Von den ehemals zehn Grenadieren waren nur noch fünf an seiner Seite. Er blickte in die müden, von Pulverspuren
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