Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Zierleiste aufgrund von Korrekturen nicht mehr auf die Seite passte, verlangte er die Streichung von sechs Zeilen: »Ob nun sechs Zeilen mehr oder weniger im Buche sind, wird auch den Kohl nicht fett machen.«
Mit deutlicher Verspätung, aber noch rechtzeitig zu Georges 32. Geburtstag erschien Anfang Juli 1900 Deutsche Dichtung. Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer . In den viereinhalb Jahren, die seit dem ersten Hinweis in den Blättern vergangen waren, hatte George aus den Romanen Jean Pauls alles weggeschnitten, was der reinen Poesie schöner Stellen im Wege stand. Es zähle allein »die unvergängliche schönheit seiner gedichte … in denen unsre sprache den erhabensten flug genommen hat dessen sie bis zu diesen tagen fähig war«. 49 Wie schon die »Lobrede« von 1896 gipfelte auch das Vorwort zum »Stundenbuch« in der Gegenüberstellung Jean Paul – Goethe. Nur wer beide Dichter kenne und liebe, werde auch zur neuesten deutschen Dichtung, der Dichtung Georges also, einen Zugang finden. Zehn Jahre später, im Vorwort zur zweiten Ausgabe, spitzte George noch einmal zu und nannte Jean Paul kurzerhand »die grösste dichterische kraft der Deutschen«.
Die Aufwertung Jean Pauls lief zwangsläufig auf eine heimliche Deklassierung Goethes hinaus, mit dem sich George von Anfang an schwer tat. Nachdem Goethes Ruhm in den achtziger Jahren auf einem Tiefpunkt angelangt war, hatten mehrere neue Biographien seit
1894 eine Renaissance eingeleitet, die fünf Jahre später in den Feiern zum 150. Geburtstag gipfelte. Mit seinem Gedicht zum »Goethe-Tag« machte George klar, dass er, bei allem Respekt, nicht gewillt war, vor dem Weimarer Erbe in die Knie zu gehen. »Goethe-Tag« enthielt drei Kernaussagen. Erstens, dass die zeitgenössische Goethe-Verehrung auf falschen Voraussetzungen beruhe. Zweitens, dass Goethe nur verstehe, wer die menschlichen Qualen ermesse, die ihn sein Werk gekostet hat. Drittens, dass vieles an Goethe bereits verblichen sei, die Zukunft aber manches Neue offenbaren werde. Es war eine höchst ambivalente Ehrung. Einerseits wollte George »die Verwandtschaft zwischen sich und Goethe unterstreichen«, 50 andererseits suchte er sich zu emanzipieren und seine dichterische Selbständigkeit zu betonen.
Für Goethe hat sich George genauso wenig wie für Nietzsche begeistern können. Das epische und dramatische Werk interessierte ihn wenig, von Goethes Prosa kannte er anscheinend nur einige autobiographische Schriften. Aber selbst die Lyrik blieb von Kritik nicht verschont. »Viel dicke instrumentation«, schrieb George abfällig in den ersten Band seiner Reclam-Ausgabe über die frühen Lieder. 51 Über den zweiten Teil des Faust wusste er nichts anderes zu sagen, als dass »ihm vieles nicht echt, vieles barock erschienen« sei. 52 Goethe als der umfassende bürgerliche Repräsentant der vorbürgerlichen Epoche konnte für Stefan George nicht zum Maßstab werden. Was er vor allem vermisste, war ein männliches Ideal. Goethes Menschenbild komme zwar in seinen großen Frauengestalten wundervoll zum Ausdruck, schrieb Edith Landmann 1920, seine männlichen Figuren aber seien allesamt »Wanderer und Sucher«, die »in Entsagung, Beschränkung und Kompromiß« endeten. Der Goethesche Humanitätsbegriff sei, wenn man ihn neben Georges Bild vom Menschen halte, erschreckend blass. »Weder Faust noch Tasso, weder Wilhelm Meister noch Werther« verkörperten auch nur annäherungsweise das heldische Ideal des deutschen Jünglings. »Dagegen ersteht bei George ein Idealbild des Menschen, welches … heldisch und daher in erster Linie das Bild des Mannes ist.« 53
George scheint bei seiner Goethe-Lektüre gerade nach solchen »männlichen« Stellen gesucht zu haben. Offenbar glaubte er, dass Goethe einen klaren Begriff von männlicher Freundschaft gehabt haben müsse. Anders war der kryptische Hinweis am Schluss des Gedichts von 1899, Goethe halte noch viele Überraschungen bereit, kaum zu verstehen. Dass sich in Goethes Dichtung »die Rückkehr zum reinen Griechentum anbahnt«, konnte man um die gleiche Zeit auch in Magnus Hirschfelds Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen lesen. 54 Diesen »anderen« Goethe glaubte auch George hier und da erkannt zu haben: als Reisegefährten der Brüder Stolberg auf der ersten Schweizer Reise (1775, sog. Werther-Nachlass), als Herausgeber der Schriften Winckelmanns (1805) oder auch als Verfasser der späten Aufzeichnungen über die Jugendfreundschaft zwischen Voss und
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