Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Stolberg (1820). 55 Aus solchen marginalen biographischen Zeugnissen einen Goethe zu konstruieren, der in seinem tiefsten Herzen von der Freundesliebe geträumt habe, schoss zwar weit übers Ziel hinaus. George aber hielt an dieser Idee nicht nur fest, sondern gründete auf sie eine der waghalsigsten Konstruktionen seines Werkes: Goethe als Prophet Maximins.
Das wahrscheinlich 1908 entstandene Gedicht trug den Titel »Goethes lezte Nacht in Italien« 56 und griff ein scheinbar traditionelles Thema auf: die Sehnsucht der Deutschen nach dem Süden. Goethe liegt einsam auf einer Lichtung und nimmt Abschied von Italien: »Fichten seh ich zwei ihre schwarzen flügel / Recken ins stetige blau der nacht.« Da treten aus dem Unterholz, als seien sie soeben einem antiken Marmorrelief entstiegen, eng umschlungen zwei Jünglinge und legen vor einer Statue auf der Lichtung einen Freundschaftsschwur ab. In Gedanken an die bevorstehende Heimreise wird Goethe von Wehmut erfasst; er fürchtet, dass die Deutschen für das neue Lebensgefühl, das er in Italien kennengelernt hat, unempfänglich seien. Im Anblick der beiden Freunde überkommt ihn jedoch eine Vision: »Doch wohin lockst du und führst du, erhabenes Paar?« Eines Tages, »wenn die fülle der zeiten gekommen«, würden die Deutschen die neue Sinnlichkeit im eigenen Land erfahren, die Bedeutung des Leibes wieder erkennen und
Sich bekehren zur wildesten wundergeschichte
Leibhaft das fleisch und das blut eines Mittlers geniessen,
Knieen im staube ein weiteres tausendjahr
Vor einem knaben den ihr zum gott erhebt.
In der Schlussstrophe wird dann die Vision eines durch Maximin möglich gewordenen künftigen deutschen Arkadiens entfaltet: »Säulenhöfe seh ich mit bäumen und brunnen / Jugend und alter in gruppen bei werk und bei musse / Maass neben stärke..« Die Realisierung dieser Vision liegt aus der Sicht Goethes noch in ferner Zukunft. In der vierten Strophe, der Mitte des Gedichts, findet jedoch eine entscheidende Verschiebung statt. Die Szenerie hat mit einem Mal gewechselt; Goethe erinnert sich an Schiffsfahrten »in das nachbarlich rheinische rebengeländ« zur Zeit der Winzerfeste. Und plötzlich rückt die Vision ganz nah. Denn der echte Spross dieser Gegend, derjenige, der die Ursprünge besser kennt und von den magischen Kräften der Antike stärker durchdrungen ist als Goethe, weil er ein Sohn und nicht nur ein Enkel der Gäa ist, hat den »grausigen Hüterinnen« die Formel längst entrissen und das griechische Zeitalter in Deutschland bereits eingeleitet.
»Goethes lezte Nacht in Italien« erschien im Februar 1909 im dritten Ausleseband der Blätter für die Kunst. Der Band brachte drei Beiträge von George: 15 Shakespeare-Sonette in seiner Übertragung, die erstmals Ende 1906 im Gedenkbuch veröffentlichte Vorrede zu Maximin und das Goethe-Gedicht. Nicht nur das Gedicht selbst, auch die Präsentation in einem erotisch und religiös solchermaßen aufgeladenen Kontext verursachte einigen Wirbel. »Es graut uns davor, den Inhalt dieser blasphemisch dahinstolpernden Verse auszudeuten«, schrieb Rudolf Alexander Schröder in einer Besprechung, die zum Derbsten gehört, was über George geschrieben wurde. 57 George nahm die nächste Gelegenheit wahr, zwei Erklärungen nachzureichen. Unter der Überschrift »Das hellenische Wunder« war in der Neunten Folge der Blätter zu lesen, warum »unsre führenden geister, voran Goethe, sich vor dem hellenischen wunder niederwarfen«. Was den Vorwurf der unzulässigen Aktualisierung betraf, wurden
die Kritiker anschließend über »Tote und lebende Gegenwart« belehrt und Goethe als »der gegenwärtigste« Kronzeuge aufgerufen. 58 Nur wer sich die Überlieferung so radikal zu eigen machte und umdeutete, war in der Lage, eine eigene Überlieferung zu begründen.
Hatte George die Jean-Paul-Auswahl im Wesentlichen selbst vorbereitet, so überließ er die Arbeit am Goethe-Band weitgehend seinem Mitherausgeber Wolfskehl. Nach einigen Querelen, die entstanden, weil sich Wolfskehl von Gundolf bevormundet fühlte, der seinerseits mehrfach von George vorgeschickt wurde, den säumigen Wolfskehl zu drängen, erschien der Band Anfang Dezember 1901. Im Vorwort betonten die Herausgeber, dass sie keinen repräsentativen Querschnitt angestrebt, sondern sich auf jenen Teil des Goetheschen Werkes konzentriert hätten, der »gemeinhin lyrik genannt« werde, weil diese »teils liedhaften teils erzählenden kleineren gedichte … zugleich den
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