Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Mit der Entdeckung der späten Hymnen und der Pindar-Übertragungen wurde Hölderlin für George und die Seinen zum »deutlichsten verheisser wort für wort / Der welt die ihr geschaut und schauen werdet«. 36 Die sensationellen Textfunde durch einen jungen Philologen aus dem eigenen Umfeld sicherten George endlich jene bis zu den Griechen zurückreichende Ahnherrschaft, um die er sich so lange bemüht hatte.
Uns heisst es ein greifbares wunder wenn durch menschenalter nicht beachtet oder nur als zarter erträumer von vergangenheiten plötzlich der grosse Seher für sein volk ins licht tritt. Das sibyllinische buch lang in den truhen verschlossen weil niemand es lesen konnte wird nun der allgemeinheit zugeführt und den erstaunten blicken eröffnet sich eine unbekannte welt des geheimnisses und der verkündung … Mit seinen anfängen gehört Hölderlin in das jahrhundert Goethes, in seinen späteren zumeist jezt erst zugänglichen oder verständlichen gebilden ist er der stifter einer weiteren ahnenreihe. 37
Und doch ging es um mehr als um bloße Vorläuferschaft. Die Entdeckung eines deutschen Dichters, der hundert Jahre vor ihm aus dem gleichen religiösen Grundvertrauen gelebt hatte, war für George ein Ereignis an sich. In Hölderlins späten Gesängen begegnete ihm zum ersten Mal ein Dichter, der das Göttliche, das ihm in großartigen Gesichten erschienen war, durch hymnische Beschwörung in die Wirklichkeit glaubte überführen zu können. »Unter allen welche die Bilder und Gesänge der Griechen als das höchste dem Menschen Erreichbare verehrten«, schrieb Max Kommerell 1928, »war allein Hölderlin gläubig genug, um in ihnen die Wirklichkeit von Gewalten zu kennen, die er noch als gegenwärtig verspürte, nach denen er sein Dasein lebte.« 38 Dichten im Hölderlinschen Sinn hieß, den Einbruch des Göttlichen in die Welt so lange zu singen, bis es sich offenbarte. »Statt offner Gemeine sing ich Gesang« – die Anfangsverse aus »Der Mutter Erde« schrieb sich George 1914 ab.
Der 1888 geborene Norbert von Hellingrath, der als eigenbrötlerisch, kauzig und schroff galt, war ein Freund Wolfskehls, »unter den hiesigen Freunden wohl mein nächster«, wie Wolfskehl nach Hellingraths Tod schrieb. »Eine gemeinsame Ironie, ein gemeinsames Pathos und dann die unaussprechliche Affinität des Wesens die doch der wahre Grund aller Freundschaft ist hatten uns verbunden.« 39 Die Hölderlin-Handschriften hatte er Anfang November 1909 in der Stuttgarter Bibliothek entdeckt. Zwei Wochen später schickte Wolfskehl einige Abschriften der Pindar-Übertragungen an George, der daraufhin sofort nach München fuhr, um Hellingrath kennenzulernen und ihm eine Veröffentlichung in den Blättern für die Kunst anzubieten. Bereits Anfang Februar 1910 brachte die Neunte Folge sechs Übertragungen, im Herbst folgte, als Veröffentlichung des Blätter-Verlags, eine Buchausgabe. Die ebenfalls im Herbst 1910 erschienene zweite Ausgabe des Jahrhunderts Goethes konnte mit dem Hölderlin-Erstdruck »Wie wenn am feiertage« aufwarten. Die von Hellingrath besorgte historisch-kritische Ausgabe von Hölderlins sämtlichen Werken, die ab 1913 im Verlag von Georg Müller, später bei Propyläen erschien, brachte die freien Hymnen im vierten Band 1916. Kurz vor Kriegsausbruch ließ Hellingrath einen Sonderdruck dieses Bandes, der »Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinschen Werkes« enthielt, für seine Freunde herstellen. 40
Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte Hellingrath im Sommer 1907 über den Siebenten Ring Zugang zur Dichtung Georges gefunden; besonders angesprochen fühlte er sich von den Zeitgedichten und dem Maximin -Zyklus. Anderthalb Jahre später, während der Vorbereitung auf seine Promotion über die Pindar-Übertragungen, musste er sich gegen Vorwürfe seines akademischen Lehrers Friedrich von der Leyen verteidigen, seine Sicht auf Hölderlin sei einseitig durch George geprägt. Hellingrath sah das genau umgekehrt; Verständnis für George habe er überhaupt nur entwickeln können, »da ich mich vorher schon an meinen Hölderlin verloren hatte«. 41 Durch die persönliche Begegnung mit George und seinen Freunden sei sein Vertrauen in den Dichter allerdings erheblich gewachsen. Deshalb
verbinde er gegenwärtig seine »nächsten Hoffnungen von der Zukunft der Welt mit dem Namen Stefan Georges«. Im November 1913 zog Hellingrath nach Heidelberg, wo er in den bis zum Kriegsausbruch verbleibenden neun Monaten an der
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