Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
schwierigen Edition des vierten Bandes arbeitete, in engem Austausch vor allem mit den Gundolf-Freunden Edgar Salin und Wolfgang Heyer. Die in München im Winter 1909/10 begonnenen Gespräche mit George fanden hier ihre Fortsetzung.
Schon 1910 hatte Hellingrath festgestellt, dass »alles eigentliche Interesse in mir dem Religiösen gilt«. 42 Deshalb konnte ihm die dichterische Haltung Georges zur Bestätigung seines Hölderlin-Bildes werden, und umgekehrt. Das Tertium comparationis war das Selbstverständnis des Dichters als Seher: die hymnische Feier des Göttlichen zur Vorbereitung seiner baldigen Ankunft in der Gegenwart. Durch die Hellingrathschen Entdeckungen, schrieb Hans-Georg Gadamer, »haben Hölderlin und George in unserem Jahrhundert eine echte Gleichzeitigkeit gewonnen«. 43 Diese »Gleichzeitigkeit« wurde schon im August 1914 gesehen. Für einen Großteil der damaligen Jugend, so erinnerte sich Klaus Mann bitter, war George »der reinste und höchstgeliebte Repräsentant eines hölderlinschen Deutschland, für das sie sterben zu müssen glaubte, während sie in Wahrheit für eine pathetisch hergerichtete Lüge fiel«. 44
Nach einer Verletzung infolge eines Reitunfalls kam Hellingrath im Januar 1915 auf Genesungsurlaub nach München. Im Haus seiner Tante, der Verlegersgattin Elsa Bruckmann (wie Hellingraths Mutter eine geborene griechisch-fanariotische Prinzessin Cantacuzène), hielt er zwei Vorträge, einen über »Hölderlin und die Deutschen«, den anderen über »Hölderlins Wahnsinn«. Unter den Zuhörern des ersten Vortrags am 27. Februar saßen Wolfskehl, Klages und Schuler sowie Rainer Maria Rilke in Begleitung seiner Geliebten, der Malerin Loulou Albert-Lasard, und der Dichterin Regina Ullmann. Hellingrath, der in Uniform sprach, sei so »durchglüht« gewesen, erinnerte sich Loulou, dass man hätte glauben können, es sei »dieser außerordentliche Kopf der des jungen Hölderlin selbst«. 45 Die Malerin, von
der Schönheit des Redners angetan, porträtierte ihn in diesen Tagen, und während Hellingrath Modell saß, unterhielt sich Rilke mit ihm angeregt über Hölderlin.
»Innere mitte meines vortrags«, so hatte Hellingrath zwei Wochen zuvor an seine Freundin Imma von Ehrenfels geschrieben, werde ein neuer Begriff sein: »das wort ›Volk Hölderlins‹, das gewiss niemand verstehn wird«. 46
Wir nennen uns »Volk Goethes«, weil wir ihn als Höchsterreichbares unseres Stammes, als höchstes auf unserem Stamme Gewachsenes sehen in seiner reichen, runden Menschlichkeit … Ich nenne uns »Volk Hölderlins«, weil es zutiefst im deutschen Wesen liegt, dass sein innerster Glutkern unendlich weit unter der Schlackenkruste, die seine Oberfläche ist, nur in einem geheimen Deutschland zutage tritt; sich in Menschen äußert, die zum mindesten längst gestorben sein müssen, ehe sie gesehen werden und Widerhall finden; in Werken, die immer nur ganz wenigen ihr Geheimnis anvertrauen, ja den meisten ganz schweigen, Nicht-Deutschen wohl nie zugänglich sind; weil dieses geheime Deutschland so gewiss ist seines inneren Wertes oder so unschuldig unbekannt mit der eigenen Bedeutung, dass es gar keine Anstrengung macht, gehört, gesehen zu werden. 47
Einer unter den Zuhörern verstand mit Sicherheit, was Hellingrath meinte: Karl Wolfskehl, der Freund, der das Wort vom »geheimen Deutschland« 1910 als Metapher für den Staat Georges geprägt hatte. Aber Hellingrath beschrieb nicht nur den Gegensatz »zwischen einem öffentlich-sichtbaren, allgemein-menschlichen, in den gymnasialen und universitären Bildungsanstalten sehr wohl auch institutionalisierten Goethe-Deutschland des Wilhelminismus einerseits und einem sehr geheimen, tiefen und im Unsichtbaren glühenden Hölderlin-Deutschland, dem inneren Reich, andererseits«. 48 Er nahm auch einen Austausch der Leitfiguren vor und setzte Hölderlin an die Stelle Goethes. Die gleiche Verschiebung findet jetzt im Werk Georges statt. Nicht mehr Goethe wird als Verkünder Maximins in Anspruch genommen, George beruft sich von nun an ausschließlich auf die neue Stifterfigur Hölderlin. Er wird, wie es am Schluss der vermutlich Ende 1914 entstandenen Hölderlin-Rede heißt, »mit seinen eindeutig unzerlegbaren wahrsagungen der eckstein der nächsten deutschen zukunft und der rufer des Neuen Gottes«. 49
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Die Frage, was unter »George-Kreis« eigentlich zu verstehen sei, habe ein Heer »von Dummköpfen, Witzbolden, Schwindlern oder Verleumdern« auf den Plan
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