Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
nicht nur als Ausdruck des seelischen und geistigen Zustands eines Menschen, in Georges Welt war Schönheit auch ein Wechsel auf die Zukunft. Wer zu den Schönen zählte, hatte die besten Chancen, auch später auf einem der vorderen Plätze zu sitzen. »Die starken heute sind die gestern schönen«, hieß es im Stern des Bundes . 65 Die Frage, wer von den Jüngsten der Schönste war, entschied also auch über »die art zukünftigen wagens«. George hielt die Antwort in der Schwebe und warf stattdessen »die bedeutende Frage auf: was wohl herrlicher sei – selber der Schönste zu sein oder den Schönsten anblicken zu dürfen«. Am Sonntag morgen trieb er den Wettstreit zwischen Gothein und Boehringer auf seine Weise voran, indem er Aufnahmen von den beiden machen ließ. Genau genommen, so habe schon Goethe gesagt, sei es ja »nur ein Augenblick, in welchem der schöne Mensch schön sei«. 66 Als sich die Festgesellschaft auf der Terrasse versammelte, bat
Thormaehlen, der sich jetzt immer häufiger als Bildhauer des Kreises betätigte, die beiden, ihm in der großen Halle Modell zu stehen:
Wir warteten nicht länger und entkleideten uns rasch. Das war nicht leicht, neben dem Egon [d.i. Erich Boehringer] zu stehen, hüllenlos und ihm standzuhalten! Denn er war nicht nur ein Kriegsheld … Die Schwellung der schlanken Hüfte setzte seitlich weit oberhalb der Weichen schon ein, und als er jetzt den gehobenen Arm um meine Schulter legte und von seinem Haar über den Hals den Rücken herunter eine einzige edel gespannte Biegung sichtbar wurde, waren alle der staunenden Bewunderung voll. 67
Die Novizen hatten sich erstmals im Kreis derer zu bewähren, denen sie nacheiferten, ohne sie in der Regel anders als vom Hörensagen zu kennen. Grundlage ihrer Initiation war der gemeinsame Glaube an die Erneuerung der Runde durch die Kraft dessen, was die übergeschlechtliche Liebe genannt wurde. Auch wenn dieser Glaube unterschiedlich stark ausgeprägt und bei jedem von ihnen anders akzentuiert war, zweifelte keiner an der gemeinschaftsbildenden Kraft der Zusammenkünfte. Gefeiert wurde die permanente Erneuerung des Kreises aus sich selbst. George hatte sie 1914 im Stern des Bundes als eines der zentralen Mysterien des Freundeskreises gefeiert:
Aus diesem liebesring dem nichts entfalle
Holt kraft sich jeder neue Tempeleis
Und seine eigne – grössre – schiesst in alle
Und flutet wieder rückwärts in den kreis. 68
Mittags ging man zu zweit oder zu dritt hinunter in die Stadt, um in einem der Gasthöfe zu essen. Sie hätten es genossen, berichtete Gothein, durch ihren Gruppenauftritt die »Bürger« zu provozieren, denen »bei unsrem Vorbeigehen vor starrem Staunen der Mund offen stehen blieb«. Das am Morgen auf dem Schlossberg trainierte Elitebewusstsein konnte sich beim mittäglichen Gang durch die Stadt erstmals bewähren. Die Übertragung des Charisma (so hätte der in diesen Tagen mit dem Umzug nach München beschäftigte Max Weber dem Sohn des Kollegen Gothein gesagt, wäre er ihm auf der Brücke begegnet) schien zu funktionieren. Die habituellen Formen der Abgrenzung gegen das eigene Milieu erinnern im Übrigen stark an
die vor dem Krieg in Kreisen der Jugendbewegung ritualisierte Protesthaltung. In dieser Hinsicht war der Typus des George-Jüngers, der sich 1919 in Heidelberg präsentierte, zweifellos ein Anachronismus (ähnlich wie auch die diversen Ableger der Jugendbewegung der zwanziger Jahre).
Als Boehringer und Uxkull am Samstagnachmittag verspätet in der Villa Lobstein eintrafen, weil sie in Antiquariaten herumgetrödelt hatten, reagierte George demonstrativ ungehalten. Da die beiden »fortgesetzt unwirsche Gesichter« gemacht hätten, so Gothein, habe er sie schließlich für eine halbe Stunde in den Schlossgarten geschickt: »Aber nicht zusammen, jeder in einen andern Teil! Und wenn ihr dann ausgemufft seid, dann dürft ihr wiederkommen.« Gothein war pünktlich gewesen, weil er an diesem Nachmittag das Wecken übernommen hatte. Nach dem Essen hielt George wie üblich Mittagsschlaf, und die drei Jüngsten sollten ihn reihum wecken. Beim Eintritt in sein Zimmer habe er zunächst gezögert, den Schlafenden anzusprechen, »doch als im Schlafe ein Lächeln um seinen Mund spielte, fasste ich mir ein Herz, trat schnell herzu, beugte mich über sein Lager und weckte ihn. Da stieg die ernsteste Frage über seine Lippen: ›Kind, ist das, was du nun tust, nur für heute oder für immer?‹ Ich antwortete nur mit den
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