Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Sicht des Kriegsgeschehens eine mythische Dimension. Die dramatische Szene erscheint als konsequente Fortführung jener Deutungsmuster, die in dem 1917 veröffentlichten Gedicht »Der Krieg« angelegt waren. Für ihn, das hatte er gleich bei Kriegsbeginn erkennen lassen, zählten nicht gewonnene Schlachten: »ob es gut oder schlecht ausgeht: – das schwierigste kommt ERST HINTENNACH!!« 10 Als Anfang August 1914 zu Hause die Kriegsbegeisterung ausbrach, war er erst einmal in der Schweiz geblieben.
Ende August schossen die Deutschen die Bibliothek von Leuven in Brand, drei Wochen später zerstörten sie die Kathedrale von Reims: Die Weltöffentlichkeit empörte sich über den Vandalismus der »Hunnen«. Wolfskehl und Gundolf veröffentlichten leidenschaftliche Artikel und »Offene Briefe« in der Frankfurter Zeitung; 93 prominente deutsche Schriftsteller, Künstler und Gelehrte verteidigten in einem »Aufruf an die Kulturwelt« das Vorgehen der Deutschen. George hielt sich auch jetzt zurück, verwies auf die Herausforderungen, die nach dem Krieg auf Sieger wie Besiegte gleichermaßen zukämen, und stellte den überkommenen Kulturbegriff insgesamt in Frage. Das hatte schon Nietzsche getan, der 1878 geschrieben hatte, dass die europäische Welt »nicht nur der Kriege, sondern der grössten und furchtbarsten Kriege – also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei – bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen«. 11
Der Krieg war aus Georges Sicht nicht eine Auseinandersetzung zwischen deutscher »Kultur« und westlicher »Zivilisation«. Die Ursache
lag für ihn nicht in nationalen Interessengegensätzen auf dem Balkan, in der angeblichen Einkreisungspolitik der Franzosen und Russen oder im Streit mit den Briten um die Begrenzung der Flotten. Die Ursache erkannte er in dem, was er die Gottlosigkeit der Epoche nannte. Gottlosigkeit war ihm eine Chiffre für alle Missstände, die mit dem Siegeszug der Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Tage getreten waren. Mit der großen Kriegsdichtung von 1917 entwickelte George ein Gegenbild. Er übernimmt die Rolle des Sehers, der von der Menge mit Wut und Hohn überzogen wird, obwohl er, oder besser, weil er das Unglück hat kommen sehen. Der Seher mahnt, innezuhalten und durch Umkehr die ursprüngliche Einheit des Daseins wiederherzustellen:
Was ist IHM mord von hunderttausenden
Vorm mord am Leben selbst? 12
Am Ende des 12 mal 12 Strophen zählenden Kriegsgedichts hatte George noch einmal ein Bild ewiger deutscher Jugend errichtet. Dank seiner Jugend bleibe Deutschland ein Land, »dem viel verheissung / Noch innewohnt – das drum nicht untergeht!« Mit der Vision einer Vereinigung von Apollo und Baldur schloss das Gedicht. Wer der griechischen Welt so nah gekommen sei wie die deutsche Jugend, sei in besonderer Weise gefeit. Sieger bleibe, so die Schlusszeilen, »wer das schutzbild birgt in seinen marken / Und Herr der zukunft wer sich wandeln kann«.
Im »Brand des Tempels« ist von der Zukunft nicht mehr die Rede, hier zeichnet sich nirgendwo Rettung ab. Die totale Perspektivlosigkeit erstreckt sich jetzt auf »ein halbes tausend-jahr«. Auch die Rolle des Dichters hat sich gründlich gewandelt. Er ist nicht mehr der Mahner, der verlacht, der Seher, der gescholten wird, der aus der Ferne beobachtende Antipode. Der Dichter hat sich selbst zum Herrn des Verfahrens erklärt. Lyrisches Ich und Autor-Ich sind nicht mehr zu trennen. Als neuer Attila befördert George die gesamte abendländische Kultur mit einem Streich in den Orkus. Aber selbst für das düsterste Szenario gilt: Apokalypse meint nicht nur Untergang. Auch
der Endzeitwahn klammert sich an die Vorstellung einer aus der Zerstörung unmittelbar hervorgehenden Erneuerung. Klaus Vondung, der die deutsche Literatur zwischen 1910 und 1930 insgesamt in einer »Phase apokalyptischer Hoffnungen« sieht, nennt als Beispiel das im Frühjahr 1918 vollendete Drama von Ernst Toller Die Wandlung . Es ist in der Tat die gleiche Bildwelt, die George im »Brand des Tempels« verwendet, das gleiche »Versprechen der Wiedergeburt« durch die deutsche Jugend, die gleiche Identifikation des Autors mit der Figur des prophetischen Dichters: »Den Weg! / Den Weg! – / Du Dichter weise.« 13 Je aussichtsloser die Gesamtsituation, desto unbedingter die Bezugnahme des Propheten auf sich selbst.
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Endzeitvisionen großen Stils lagen in der Luft. Im Frühsommer 1917, als
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