Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
Vom Netzwerk:
nicht mehr der imaginierte weibliche Geschlechtsvamp, die Versuchung ist jetzt der reale Mann.
    Aber es gibt kein Zurück. Die beiden letzten Strophen des Gedichts machen klar, dass die auf der Reise gewonnenen Erfahrungen mit »der alten toten weisheit« nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Keiner von den frommen Vätern des Internats würde die Zweifel und Nöte des Schülers verstehen. Deshalb wird er diese Stätte des Friedens und der Unschuld am nächsten Morgen in aller Frühe verlassen, ohne sich irgendjemandem zu erklären. Der Bruch ist vollzogen, der Schüler ist erwachsen geworden.

4
    Fünf Wochen nach der mündlichen Reifeprüfung am 13. März 1888 ging Stefan George für anderthalb Jahre auf Reisen. In London, Montreux und Paris verbrachte er jeweils vier bis fünf Monate, außerdem unternahm er von der Schweiz aus einen längeren Abstecher nach Mailand und fuhr im Hochsommer 1889 von Paris für vier Wochen nach Spanien. Über diese Reisen sind viele Vermutungen angestellt worden. In der George-Literatur hat sich dabei die Vorstellung durchgesetzt, sie als Beginn einer lebenslangen Wanderschaft auf der Suche nach Gleichgesinnten zu deuten. Immerhin hat George selbst dieser Interpretation den Weg bereitet, indem er in immer neuen Bildern von der frühen »not des wandertumes« sprach. 56 Aber das ist die Sicht der späteren Jahre, die nachträglich eine Kontinuität im Biographischen herzustellen suchte, die sich damals, 1888/89, keineswegs abzeichnete. In Wirklichkeit war George unentschlossen, und so nahm er dankbar das Angebot des Vaters an, ihm fürs Erste einen längeren Aufenthalt in London zu finanzieren.
    London als Reiseziel hatte dem Vater aus praktischen Gründen eingeleuchtet. Zum einen würde sein Sohn dort richtig Englisch lernen; die wenigen Grundkenntnisse, die George auf dem Gymnasium mitbekommen hatte, waren so dürftig, dass er Rouge von Bingen aus bitten musste, ihm zur Vorbereitung kurzfristig noch ein Exemplar Do You Speak English? zu schicken. Zum andern hatte die Familie in London Bekannte, wohl Geschäftspartner des Vaters, die dafür sorgten, dass der junge George eine angemessene Unterkunft fand. Der Vater sah das Ganze in erster Linie unter finanziellen Aspekten und verstand seine Zuwendungen als Investition in die Zukunft seines Sohnes. Es sei »sehr erfreulich zu hören«, schrieb er ihm Anfang Juni 1888, »dass Du gute Fortschritte machst. Für das heidenmäßig viele Geld muss man auch die Zeit ausnutzen.« 57
    Dass sich die Auszeit seines Sohnes über 18 Monate hinzog – der geplante Studienbeginn in Straßburg im Frühjahr 1889 zerschlug sich aus unbekannten Gründen -, entsprach nicht mehr den Plänen des
Vaters. Dennoch fand er sich damit ab, dass die berufliche Zukunft seines Ältesten im Ungewissen blieb. Er zeigte sich weiterhin großzügig und beantwortete dessen diverse Bitten um Aufbesserung der Reisekasse offenbar umgehend durch entsprechende Postanweisung. Für George, der beim Abitur als voraussichtliches Studienfach Jurisprudenz angegeben hatte, sich dann aber für neuere Philologie entschied, stand von Anfang an anderes im Vordergrund als die Vorbereitung auf einen Brotberuf. Die anderthalb Jahre seines »wandertumes«, in denen er fünf europäische Länder kennenlernte, hat er in erster Linie als eine große Bildungsreise aufgefasst. So wie wohlhabende junge Engländer des 18. und frühen 19. Jahrhunderts vor Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung die Gelegenheit einer Grand Tour nutzten und Frankreich, Italien und andere Länder bereisten, so wollte sich auch Etienne George in der Welt erst einmal umsehen. »Du musst übrigens wissen, dass ich in England immer kosmopolitischer werde«, berichtete er nach drei Monaten London-Aufenthalt stolz an Arthur Stahl. 58
    Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten hatte George nach zwei Wochen absolviert: Westminster Abbey, Saint Paul’s Cathedral, National Gallery. Er machte einen Ausflug nach Brighton, sah sich trotz des hohen Eintrittspreises eine Aufführung mit Sarah Bernhardt an und bewunderte im Hyde Park die »ladies zu fuss zu wagen zu ross. Von jetzt ab lass ich auf die englischen ladies nichts mehr kommen. Übrigens werden sie mir hier in der familie, wo ich bin, dutzendweiss vorgestellt. Ich war auch auf dem grossen ›meeting‹ wo gegen die ›wheel-tax‹ (radsteuer) protestirt wurde. So ein meeting ist etwas kostbares.« 59 Alles schien ihm großartig, tausendmal großartiger jedenfalls als das,

Weitere Kostenlose Bücher