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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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und Kommerell. Mit Wolters’ Geschichte der Blätter sollte endlich auch der Kreis selbst zum Sinnbild werden: zum Sinnbild einer geistigen Gemeinschaft, eines Dichterstaates. An dieser höheren Wirklichkeit zielte der Vorwurf der Unwahrhaftigkeit vorbei. »Es geht hier nicht um die Wahrheit, es geht um den Staat«, antwortete George auf entsprechende Einwände und wies jede Kritik an Wolters’ Buch zurück. 42
    Hätte Wolters seine Arbeit, wie ursprünglich geplant, 1914 abgeschlossen, wäre ein zeitgemäßes Buch herausgekommen, ein Buch aus dem Geist der Jahrbücher . Fünfzehn Jahre später war das Unternehmen ein Anachronismus, und der Autor selbst hatte kein gutes Gefühl dabei. Während er vor dem Krieg »die Blättergeschichte kühn aus unbewusstem drange [hätte] schreiben können«, sei er jetzt gezwungen, sich vieles mühsam zu erarbeiten, stöhnte Wolters im Sommer 1926, als er den Stoff endlich beisammen hatte. 43 Um sich die Plackerei einigermaßen zu versüßen, schrieb er, als ginge es noch einmal in den Kampf, als stünde man nicht im Jahr 1930, sondern im Jahr 1910. George war über die Begeisterung der Vorkriegszeit längst hinweg. Hätte er Wolters’ Dilemma erkannt und ihm erlaubt, die Geschichte mit dem Kriegsausbruch 1914 enden zu lassen, wäre der Sache gedient gewesen. Aber eine abgeschlossene historische Darstellung hätte das Eingeständnis bedeutet, dass die Maximin-Legende, die Beschwörung der deutschen Jugend als vaterländische Utopie, in den Materialschlachten an Marne und Somme verglüht war. Dies wäre unvereinbar gewesen mit dem Selbstverständnis Georges. Also schrieb Wolters die Geschichte fort, als gäbe es eine zweite Chance, als käme doch noch der Tag, an dem sich in der Stellung der Deutschen zu diesem Dichter die Zukunft des Landes entscheiden würde.
    Dass der ohnehin schwer erträgliche Wolterssche Messianismus gegen Ende ins Peinlich-Groteske geriet, hatte freilich noch eine andere, tiefer liegende Ursache. Es ging um die Definition des »Staates«.
Wolters’ Verhältnis zu George war immer ein äußerliches geblieben, und obwohl ihm George ausdrücklich versichert hatte, »Vorm Herrn gilt gleich der in- und aussenkrieg«, 44 führte nichts daran vorbei, dass der Biograph aus der zweiten Reihe schrieb. Weil ihm die Sensorien für das zentrale Geschehen des Freundeskreises, die Liebe eines Älteren zu einem Jüngeren, fehlten und er sich den pädagogischen Eros nur theoretisch vorzustellen vermochte, hatte er sich früh in der Kunst geübt, die Initiation liturgisch zu umschreiben. Er wollte das Geheimnis nicht nur verstehen, er wollte es auch verständlich machen. George sah den Paraphrasierungen über das Wunder der Vergöttlichung mit Bangen entgegen. »Wolters begreift schwer das, was im Staat okkult bleiben muss«, klagte er in der Endphase der Arbeit. 45 Und noch im Sommer 1929, vier Monate vor Erscheinen, fürchtete er, dass Wolters an der Darstellung des Maximin-Erlebnisses scheitern könnte. »Die krise aber wird Buch IV bringen, ist sie überstanden so fürcht ich nichts bedenkliches mehr«, schrieb er ihm nach Lektüre der ersten 400 Manuskriptseiten am 15. Juli aus Königstein. 46 Wolters entledigte sich des Problems, indem er die Maximin-Gedenkrede in voller Länge zitierte und im Übrigen auf den religiösen Charakter des Ereignisses verwies: »Was der Dichter uns nicht offenbart hat, wagen wir auch nicht zu enträtseln.« 47
    George hat sich der Neigung seines Biographen zum Sakralen geschickt bedient, möglicherweise ohne dass Wolters erfasste, welchen Dienst er ihm hiermit erwies. Was in Wolters’ Augen zur ultimativen Propagandaschrift hätte werden sollen, dachte sich der Auftraggeber immer auch als ein esoterisches Buch. Wolfskehl gehörte zu den wenigen, welche die beiden Aspekte der Blätter- Geschichte erfassten und ahnten, dass sie aus Georges Sicht das Gegenteil von dem bewirken sollte, was sie zu bewirken vorgab. Er hielt die Täuschung offenbar sogar für die »primäre Absicht«. Mit dem Wolters-Buch, schrieb er am 14. Februar 1930 an seine Frau Hanna, seien »Meister und Kreis wieder etwa auf die Verkennungsstufe von, sagen wir, 1905 herabgedrückt – was nach den mannigfachen Grenzverwischungen der letzten zehn, fünfzehn Jahre eher ein Glück ist als ein Unheil«. 48

    Wolters hatte seine letzten Reserven mobilisiert und war über die geringe Resonanz bitter enttäuscht. Vollkommen erschöpft, starb er ein halbes Jahr nach

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