Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Fertigstellung seines Hauptwerkes 53-jährig in der Karwoche 1930.
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Eine Woche später, am Dienstag nach Ostern, wurde in Halle der 17. Deutsche Historikertag eröffnet. Unter den Referenten und Zuhörern finden sich viele klangvolle Namen: Aubin, Brandi, Heimpel, Holtzmann, Oncken, Rothfels, Schnabel, Schramm. Vor dieser illustren Runde sprach am dritten Tag ein junger Kollege über »Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte«. Wegen des großen Andrangs musste der Vortrag vom Auditorium Maximum in die Universitätsaula verlegt werden. Ein halbes Jahrhundert später sollte der Name des Referenten, der sich selber als »Außenseiter ohne Amt und Würden« vorstellte, die Namen vieler seiner Zuhörer überstrahlen: Ernst Kantorowicz.
Gespannt war das Auditorium auf seinen Vortrag vor allem, weil einer der Großen des Fachs, der Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive und Mitherausgeber der Historischen Zeitschrift Albert Brackmann (der in Halle nicht zugegen war), Kantorowiczs Erstling in ungewöhnlich scharfer Weise attackiert hatte. Die Erkenntnisse der Friedrich-Biographie seien »auf methodisch falschem Wege gewonnen worden« und deshalb für die Wissenschaft ohne Belang. »Der Grundfehler ist offenbar der, dass Kantorowicz den Kaiser zuerst ›geschaut, gefühlt, erlebt hat‹ und mit diesem vorher gewonnenen Bilde an die Quellen herangegangen ist.« Brackmann forderte dazu auf, endlich »die Diskussion über den wissenschaftlichen Charakter der historischen Werke aus der George-Schule [zu] eröffnen«, deren Erzeugnisse er für nicht weniger gefährlich halte als die »historische Belletristik eines Emil Ludwig«. 49 Den Erfolg des Buches im Rücken, trat Kantorowicz in Halle an, die »Frage nach dem wissenschaftlichen
Wert der historischen Werke aus der George-Schule« zu beantworten. Dass er nicht nach dem »wissenschaftlichen Charakter «, sondern nach dem »wissenschaftlichen Wert « der Publikationen fragte, machte deutlich, um was es seiner Meinung nach ging: nicht um einen »Methodenstreit«, wie Brackmann glauben machen wollte, sondern um einen »Anschauungsstreit«. 50
Seine Replik auf Brackmanns Rezension hatte Kantorowicz bereits Anfang März in der Historischen Zeitschrift vortragen dürfen. Sie war so scharf, dass Brackmann seinerseits auf eine Replik der Replik nicht verzichten wollte; pünktlich zum Historikertag Ende April hatte die Zunft ein dankbares Streitthema gefunden. »Wie schreibt man Geschichte und wie darf man Geschichte nicht schreiben«, fragte Kantorowicz in Halle und verteidigte seine Grundthese, dass der »Mythos« eines Menschen, das Bild, das er von sich entwirft und das andere von ihm entwerfen, und die historische »Wahrheit«, wie er wirklich gewesen ist, nicht von vornherein als Gegensatz aufgefasst werden dürften. Erzählungen und Legenden seien vielmehr Teil der historischen Wahrheit und genauso aufschlussreich für eine spätere Biographie wie »Akten, Urkunden und Rechnungsbücher«. Wenn eine Person »durch die Beschreibung der von ihr ausgehenden Wirkung« besonders deutlich hervortrete, sei es die vorrangige Aufgabe des Historikers festzustellen, ob und inwieweit »diese zeitgenössischen Spiegelungen« mit dem Bild übereinstimmen, das die Person von sich entworfen hat. »Ist dies der Fall, so wird es unter Umständen durchaus angängig sein, sogar einmal die Geste für die Tat zu nehmen.« 51
Die in der Aula versammelten Historiker reagierten zurückhaltend bis verstört. Da stand ein auffallend gut gekleideter junger Mann von exotischem Aussehen, nicht habilitiert, der in allem Unabhängigkeit demonstrierte, und sprach über Probleme der Biographik am Beispiel des Hohenstaufenkaisers. In Wirklichkeit – das blieb niemandem im Saal verborgen – rührte er im Namen Stefan Georges an unverrückbare Glaubenssätze der historischen Zunft. Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung, einst »unter dem Oberbegriff der Geschichtswissenschaft zusammengefasst«, seien längst auseinandergetreten.
52 Der Referent erklärte die Positivisten mit ihrer Forderung nach einer wertfreien Wissenschaft zu hoffnungslosen Außenseitern, in manchem den historischen Belletristen verwandt. Der in den Werken der George-Schule angewandten Geschichtsschreibung aber eröffne sich durch Rückbesinnung auf den nationalen Mythos die Chance, mitzuwirken an »der würdigen Zukunft der Nation und ihrer Ehre«. In diesem Glauben, so endete
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