Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
seinem Biographen verschwieg, war die Tatsache, dass das Gedicht gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war. Anfang März hatte er Gérardy gebeten, eine Abschrift seines neuen Zyklus »A tous ceux de la ronde« (»Allen denen von der Runde«) zu schicken. Das ihm gewidmete Eröffnungssonett schmeichelte George so, dass er es auf der Stelle übersetzte und, ohne Gérardy zu fragen, in das bereits weitgehend fertiggestellte Heft der Blätter einrückte. Es war das einzige französische Gedicht Gérardys, das George je übertrug. Der Verfasser fühlte sich geschmeichelt und nannte die Übersetzung, durchaus doppeldeutig, »einen erstaunlichen Kraftakt«. 9
Als George Ende Juli 1892 zum ersten Mal nach Lüttich kam, überraschte ihn Gérardy mit einer Einladung in die Sommerfrische. Zusammen mit einem Kommilitonen, Léon Paschal, hatte er im nahe gelegenen Tilff eine Ferienwohnung gemietet, und dorthin nahm er George mit. Ein weiterer Studienfreund, Edmond Rassenfosse, dessen Eltern in Tilff ein Landhaus besaßen, verbrachte die Ferien ebenfalls dort. Man blieb knapp zwei Wochen zusammen, las sich gegenseitig Gedichte vor und sprach über Möglichkeiten, George beim Aufbau seiner Blätter für die Kunst zu unterstützen.
In der ungezwungenen Atmosphäre auf dem »Dichterberg« lenkte vor allem Edmond Rassenfosse die Aufmerksamkeit des deutschen Gastes auf sich. Der leicht melancholische junge Mann, der gerade seinen 18. Geburtstag gefeiert hatte, ließ George seine Zuneigung spüren. Rassenfosse trat ihm so rührend unbeholfen und erwartungsvoll
entgegen, dass George, der ja nur sechs Jahre älter und in seiner sexuellen Entwicklung noch unsicher war, Vertrauen fasste und sich seinerseits öffnete. Zwei Jahre später wurde Rassenfosse »der erste jüngere Freund des Dichters«, heißt es bei Morwitz. In der verschlüsselten Sprache des späteren inner circle bedeutete dies nichts anderes, als dass die beiden intim miteinander waren. 10
Daran lassen auch die erhaltenen Fragmente ihrer Korrespondenz keinen Zweifel. »Mein sehr geliebter Freund, ich möchte, statt Ihnen zu schreiben, zu Ihnen kommen, Ihre Hände ergreifen und mich an Ihr Herz drücken«, schrieb Rassenfosse nach ihrem ersten Wiedersehen im März 1894 in Brüssel, als sie sich bei quelques intimes soirées qui nous furent accordées zum ersten Mal näherkamen. »Schwören Sie mir bei all unserer frommen Zuneigung ( par toute la pieuse affection ), die sich während unseres letzten Beisammenseins unmittelbar zwischen uns entwickelte, dass Sie für alle Zeiten Vertrauen zu mir haben. Lassen Sie mich nicht im Stich und halten Sie, mein Bruder in der Kunst, mich fest in Ihren Armen als der Ältere, denn ich habe Angst, schwach zu werden.« Als sich George im Jahr darauf erneut für etwa zwei Wochen in Brüssel aufhielt, scheint er sich Rassenfosse sehr weit geöffnet zu haben, denn hinterher empfand er »Wut darüber, seine Schmerzen einem jüngeren und lächelnden Bruder eingestanden zu haben«. Vier Monate später, Ende September 1895, kam Rassenfosse, nach einer nochmaligen Begegnung in Brüssel, für drei Tage zu Besuch nach Bingen. George ließ sich jedoch auf nichts mehr ein. Zwar sahen sie sich in den folgenden Jahren noch gelegentlich, wenn George auf Durchreise in Brüssel Station machte, aber die Anhänglichkeit des Freundes schien George eher lästig zu sein. »Ich will Ihnen sagen, dass ich nichts von unseren Erinnerungen leugne«, schrieb Rassenfosse nach längerem Schweigen Georges im Februar 1898, »nichts auch von meinen Gefühlen der Zuneigung und der Hochachtung. Nichts hat sich geändert trotz der Missachtung, die Sie mir zu erweisen beliebten, mein harter Freund, und trotz der Kälte, die Sie bei unserem letzten Wiedersehen an den Tag legten.« 1901 erinnerte er aus dem fernen Konstantinopel, wo er sich inzwischen niedergelassen
hatte, noch einmal an »unsere köstlichen Abende von ehedem … Vergessen Sie sie nicht.« 11
Von Georges Hand hat sich ein einziger Briefentwurf erhalten. Er ist wohl auf Sommer 1895 zu datieren, als George zu Rassenfosse bereits auf Distanz gegangen war. Dieser hatte sich – so lässt der Entwurf vermuten – unglücklich in einen Jungen verliebt, der diese Liebe nicht erwiderte, und in seiner Hilflosigkeit suchte er Rat. Einfühlsam und ausführlich entwickelte George seine Sicht des Problems. Er habe, als er in Rassenfosses Alter gewesen sei, die gleichen schmerzlichen Erfahrungen machen müssen – das
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