Stefan Zweig - Gesammelte Werke
die Jungen greifen und zu Sklaven machen in ihrer Stadt. Darum dürfen die rüstigen Männer und die Knaben nicht mit hinaus in die Nacht. Aber anders mit uns. Wir sind alt, und unnütz ist allen ein Greis und sich selber am meisten. Wir können nicht rudern in den Galeeren, wir, die kaum Kraft hätten, Erde zu schaufeln für unser eigenes Grab, und selbst der Tod, wenn er uns nimmt, gewinnt nicht mehr viel. Unser ist es, das Gerät zu begleiten. Nur die mögen also zusammentreten und sich zum Wege rüsten, die über Siebzig sind.«
Aus dem Gedränge traten die Greise, alle silbernen Bartes. Zehn waren es, und als Rabbi Elieser, der Reine und Klare, zu ihnen sich reihte, waren es elf: an die Urväter des Volkes dachten die Jüngeren, wie sie da standen, die Letzten vergangener Zeit, ernst und feierlich. Noch einmal wendete der Rabbi sich ab von ihnen und trat zurück in den andern Kreis:
»Wir werden gehen, die Alten, die Greise: habt keine Sorge, ihr andern, um unser Geschick! Aber doch: auch ein Kind muß mit uns gehen, ein Knabe, daß er Zeuge sei für das nächste und abernächste Geschlecht. Wir sterben bald hin, unser Licht ist halb niedergebrannt und in Kürze verstummt unser Mund. Einer aber möge bleiben noch Jahre und Jahre, der lebendigen Blicks den Leuchter vom Tisch des Herrn gesehen, damit die Gewißheit fortlebe von Stamm zu Stamm und von Geschlecht zu Geschlecht, daß unser Heiligstes uns nicht für immer verloren ist, sondern weiter nur wandert auf seinem ewigen Weg. Ein Kind, ein unmündiges, und ob es auch den Sinn nicht begreife, muß mit uns gehen um der Zeugenschaft willen.«
Alle schwiegen. Jeder dachte voll Angst an sein eigen Kind, es hinauszusenden in Nacht und Gefahr. Aber schon hatte Abthalion, der Färbermeister, sich erhoben.
»Ich gehe und hole Benjamin, mein Enkelkind. Sieben Jahre ist er erst alt, so viele Jahre als Arme sind an jenem Leuchter, und dies scheint mir ein Zeichen. Bereitet euch unterdessen zum Wege, nehmt an Zehrung, was ihr findet in meinem Hause; ich bringe das Kind.«
Die Greise setzten sich rund um den Tisch, die Jüngeren brachten ihnen Wein und Speise. Aber ehe sie das Brot brachen, hub der Rabbi das Gebet an, das zu allen Zeiten die Vorväter sprachen dreimal des Tages. Und dreimal wiederholten mit ihren dünnen, gebrochenen Stimmen die Greise den sehnsüchtigen Spruch: »Barmherziger, wolle in deiner Barmherzigkeit deine Herrlichkeit zurückführen nach Zion und den Dienst des Opfers nach Jeruscholajim.«
Nachdem sie dreimal das Gebet gesprochen, rüsteten die Greise zur Wanderung. Mit Ruhe und Bedacht, als ob sie eine heilige Handlung verrichteten, zogen sie die Sterbekittel ab, taten sie in ein Bündel und dazu den Mantel des Gebets und die Riemen. Die Jüngeren holten indes Brot und Früchte für den Weg und starke Wanderstöcke zur Stütze. Dann schrieb jeder der Greise noch auf Pergament, was geschehen solle mit seiner Habe, falls er nicht wiederkehre, die andern leisteten Zeugenschaft.
Inzwischen war Abthalion, der Färbermeister, die hölzerne Treppe emporgestiegen. Er hatte die Schuhe vorher abgetan, aber da er ein schwerer und feister Mann war stöhnte unter seinen Tritten das morsche Holz. Vorsichtig drückte er die Türe in den Wohnraum auf, darin alle gehäuft schliefen (denn sie waren arm), seine Frau und seines Sohnes Frau und die Töchter und Kindeskinder. Durch den Spalt der verschlossenen Luken schimmerte unsicheres Mondlicht herein, feucht und blau wie ein Nebel, und so sorgsam Abthalion auch auf den Zehen schritt, merkte er doch, daß von ihren Betten her offene Augen erschrocken aufstarrten und wach seine Frau und seines Sohnes Frau auf ihn blickten.
»Was ist?« murmelte erschreckt eine Stimme. Abthalion antwortete nicht, sondern tastete weiter zur linken Ecke, wo er die Lagerstatt Benjamins, des Enkels, wußte. Zärtlich beugte er sich über die niedere Streu. Der Knabe schlief fest und tief, die Fäuste wie zornig über die Brust geballt: wild und leidenschaftlich mußte sein Traum sein. Abthalion strich ihm leise über das verwirrte Haar, um ihn zu wecken. Der Knabe erwachte nicht gleich, doch mußten die Sinne durch die schwarze Hülle des Schlafs etwas gespürt haben jener Liebkosung. Denn die Fäuste lockerten sich, die gespannten Lippen taten sich auf, unbewußt lächelte das Kind und dehnte wohlig und weich seine Arme. Abthalion fühlte einen wehen Schmerz, daß er dies arglose Kind wegführen mußte aus so lindem Geträume.
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