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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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wanderten hinter dem geliebten Gerät.
    Zwischen den beiden Alten, seinem Großvater Abthalion und dem Rabbi Elieser, keuchte der Knabe und machte angestrengt seine Schritte weit, um nicht zurückzubleiben. Er schwieg, weil die andern schwiegen, aber unermeßliche Angst erfüllte seine Brust, und schmerzhaft schlug sein kleines Herz bei jedem Schritte heftig an die Rippen. Er hatte Angst, eine wirre und wortlose Angst, weil er nicht wußte, warum diese alten Männer ihn nachts aus dem Bette geholt, Angst, weil er nicht wußte, wohin sie ihn führten, und vor allem Angst, weil er noch niemals im Freien die Nacht gesehen und den großen Himmel über ihr. Nur von jener jüdischen Gasse her kannte er die Nacht; dort war sie klein und schmal, eine Handbreit Schwärze, kaum daß drei Sterne oder vier sich durch die engen Luken zwischen den Dächern preßten. Man mußte Furcht haben vor ihr, denn voll war sie mit vertrautem Getön. Bis in den Schlaf hörte man das Beten der Männer, das Husten der Kranken, das Scharren der Füße, das Schreien der Katzen, das Surren vom Herd, rechts schlief die Mutter, zur Linken die Schwester, man war gehütet, umhütet von Wärme und Atem, man war nicht allein. Hier aber drohte die Nacht als unermeßliche Leere; kleiner als je fühlte sich der Knabe unter dieser wölbig-schleiernden Kuppel. Wären die schützenden Männer nicht mit ihm gewesen, er hätte geweint oder versucht, sich wo zu verstecken vor diesem Riesigen, das von allen Seiten mit wuchtigem Schweigen gegen ihn andrang. Aber glücklicherweise war neben der Angst in seinem winzigen Herzen noch Raum für einen brennenden und pochenden Stolz, denn stolz war zugleich das Kind, daß die Alten – in deren Gegenwart selbst die Mutter nicht zu sprechen wagte und vor denen die Jüngeren bebten – daß diese Großen und Weisen gerade ihn, den Kleinsten, gewählt unter allen den andern. Nicht wußte der Knabe, wozu und warum die Alten ihn mit sich genommen, aber so kindisch sein Sinn noch war, eine Ahnung durchdrang ihn, etwas Gewaltiges müsse sein in diesem Gange durch die Nacht. Mit aller Macht wollte er darum sich würdig zeigen ihrer Wahl, immer wieder dehnte er die dünnen, kurzen Beinchen zu großem Schritt, tapfer zwang er sein Herz nieder, wenn es zu hart an die Kehle pochte. Aber zu lange dauerte der Weg. Längst war das Kind schon müde und immer wieder überfiel es Angst, wenn im dunstigen Mondlicht ihre eigenen Schatten plötzlich sich verlängerten auf dem Wege und dann wieder schmolzen und man nichts hörte als immer nur den Schritt, den eigenen Schritt auf den flachgehämmerten und hallenden Steinen. Und als jetzt unvermutet mit leisem Pfiff ihm etwas um die Stirn fuhr, eine Fledermaus, schwarz und zackig wieder wegzuckend in die Nacht, da schrie der Knabe auf und krampfte sich an des Großvaters Hand: »Großvater, Großvater! Wohin gehen wir?«
    Der alte Mann wandte nicht den Kopf. Nur hart und ärgerlich knurrte er: »Schweig und geh! Du hast nicht zu fragen.« Der Knabe bückte sich wie unter einem Schlag. Er schämte sich, daß er seine Angst nicht hatte verhalten können. Ich hätte nicht fragen sollen, kränkte er sich.
    Aber Rabbi Elieser, der Reine und Klare, hob das Haupt streng zu Abthalion und über den weinenden Knaben hinweg:
    »Törichter du, wie sollte das Kind nicht uns fragen? Wie sich nicht wundern, daß man vom Bette es aufreißt und hinführt in eine fremde Nacht? Und warum soll der Knabe nicht wissen die Ursache unseres Ausziehens und Wanderns? Hat er durch das Erbe seines Bluts nicht teil an unserem Schicksal? Wird er nicht länger noch unsere endlose Not tragen durch die Zeit denn wir selber? Unsere Augen werden längst erloschen sein, er aber wird dann noch leben, ein Zeuge anderem Geschlecht und der letzte, der zu Rom den Leuchter vom Tisch des Herrn gesehen. Warum willst du ihn unwissend haben, ihn, von dem wir wollen, daß ein Wissender er werde und der Bote dieser Nacht?«
    Beschämt schwieg Abthalion. Rabbi Elieser aber beugte sich zart zu dem Knaben und strich ihm ermutigend über das Haar.
    »Frage nur, Kind! Frage tapfer, soviel du begehrst, ich werde dir Antwort geben. Schlimmer ist es für den Menschen, nicht zu wissen, denn zu fragen. Nur wer viel gefragt hat, kann vieles verstehen. Nur aber wer vieles versteht, wird ein Gerechter.«
    Dem Knaben bebte das Herz vor Stolz, daß der Weise, den alle die andern ehrfürchteten, so ernsthaft zu ihm sprach. Gerne hätte er dem Rabbi die

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