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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Dennoch faßte er den Schlafenden und schüttelte ihn fester. Sofort fuhr das Kind auf und blickte gejagten Auges um sich, es war ein Kind, erst sieben Jahre alt, aber ein jüdisches Kind in der Fremde und gewohnt darum aufzuschrecken, wenn ein Unvermutetes kam. So erschrak sein Vater, wenn der Klopfer an die Türe schlug, so erschraken sie alle, die Alten und Weisen, wenn ein neu Edikt verlesen wurde auf der Gasse, so schauerten sie, wenn ein Kaiser starb und ein neuer kam, denn böse und gefährlich war alles Neue für die Judengasse des Trastevere, in der sein kleines Leben gelebt. Noch hatte er die Schrift nicht gelernt, jedoch dieses eine wußte er schon: Furcht zu haben vor allem und jedem auf Erden.
    Wirren Blicks starrte der Knabe auf, und rasch fuhr Abthalion ihm an den Mund, daß er nicht schreie im Schreck. Aber kaum erkannte der Knabe den Großvater, beruhigte er sich. Abthalion beugte sich über ihn und flüsterte, ganz nahe die Lippen: »Nimm dein Kleid und deine Schuhe und komm! Aber leise, daß niemand dich hört.« Sofort stand der Knabe auf. Er spürte ein Geheimnis und war stolz, daß der Großvater ihn mit in dies Geheimnis nahm. Ohne mit einem Wort oder einem Blick zu fragen, tastete er nach Kleid und Schuh.
    Sie schlichen schon gegen die Tür, da hob sich die Mutter aus den Kissen und schluchzte ängstlich: »Wohin führst du das Kind?«
    »Schweig«, antwortete Abthalion schroff, »ihr Frauen habt nicht zu fragen.«
    Er schloß die Tür. Die Frauen im Zimmer mußten jetzt alle wach geworden sein. Man hörte verworrenes Reden und Schluchzen hinter dem dünnen Holz, und als die elf Greise und dazwischen das Kind aus dem Tore traten, um ihren Weg zu beginnen, wußte, als sei die sonderliche Botschaft durch die Wände gesickert, schon die ganze Gasse von ihrem gefährlichen Gang: aus allen Häusern stöhnte Ängsten und Klagen. Aber die alten Männer sahen nicht auf und sahen sich nicht um. Still und ernst entschlossen begannen sie ihren Weg. Es war nahe an Mitternacht.
    Zu ihrem Staunen stand das Stadttor unbewacht und offen: niemand fragte oder hinderte ihren nächtlichen Gang. Jener Hornruf, den sie vernommen, hatte die letzten vandalischen Wachen gesammelt, und die Römer wiederum, ängstlich in ihren Häusern verschlossen, wagten noch nicht zu glauben, daß die Prüfung zu Ende sei. So lag die Straße, die zum Hafen führte, vollkommen leer, kein Karren, kein Gefährt, kein Mensch, kein Schatten: nur weiß die Meilensteine im Licht des dunstigen Monds. Ohne Hinderung durchschritten die nächtlichen Pilger das offene Tor.
    »Wir sind schon zu spät«, urteilte Hyrkanos ben Hillel. »Die Beutewagen müssen uns weit voraus sein, vielleicht waren sie unterwegs schon, ehe die Hörner bliesen. Es tut not, daß wir eilen.«
    Alle beschleunigten ihren Schritt. In der ersten Reihe ging, den starken Stock in der Hand, Abthalion, zu seiner Rechten Rabbi Elieser, zwischen dem Siebzigjährigen und dem Achtzigjährigen trippelte mit seinen kleinen Schritten, schüchtern und noch ein wenig schlaftrunken, das siebenjährige Kind. Hinter ihnen wanderten, je drei zusammen, die andern Greise, das Bündel haltend in der Linken, den Stecken in der Rechten; gesenkten Hauptes gingen sie wie hinter einem unsichtbaren Sarg. Rings um sie dunstete drückend die campanische Nacht, kein erlösender Lufthauch hob den sumpfigen Brodem, der dick und schleimig über den Feldern schwebte und nach fauliger Erde schmeckte, und von dem erstickend nahen Himmel blinzelte ein kranker und grünlicher Mond. Ungut war es und gespenstig, in solch schwüliger Nacht in das Unsichere zu gehen, vorbei an den runden Grabhügeln, die wie tote Tiere reglos am Wege lagen, und vorbei an den beraubten Häusern, die mit ausgebrochenen Fensteraugen wie Blinde auf das Wunder der wandernden Greise starrten. Aber bislang zeigte sich keine Gefahr, leer schummerte die Straße und weißlich wie im Nebel ein gefrorener Fluß. Von den Räubern war keine Spur mehr zu sehen, nur einmal, zur Linken, erinnerte ein brennendes römisches Sommerhaus an ihr plünderndes Vorüberziehen. Der First war schon eingesunken, doch von innen färbte rötlich schwelende Glut den schraubig aufsteigenden Rauch, und alle die Greise, die elf, da sie hinblickten, hatten einen und denselben Gedanken: es war ihnen, als hätten sie die Rauch- und Feuersäule gesehen, die mit der Stiftshütte gegangen, als die Väter und Urväter noch hinter der Lade wanderten, wie sie jetzt

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