Stefan Zweig - Gesammelte Werke
erklärte dieser eine kleine Knabe Gott den Krieg. Und zornig – denn er schämte sich seines Blutes – herrschte Abthalion seinen Enkel an:
»Schweig und lästere nicht!«
Aber Rabbi Elieser zerschlug ihm das Wort:
»Du schweig zuerst! Was murrst du gegen das unschuldige Kind? Denn nichts hat sein ahnungsloses Herz anderes gefragt, als was wir täglich und stündlich uns fragen, du und ich und wir alle und die Weisen und Weisesten unseres Volkes von Anfang und Anfang an. Nichts hat dies Kind gefragt als unsere alte jüdische Frage: warum faßt Gott gerade uns so hart unter den Völkern, gerade uns, die wir ihm dienten wie keines? Warum wirft er gerade uns unter die Sohlen der andern, daß sie uns treten, uns, die ihn als die ersten erkannt und gepriesen in der Unfaßbarkeit seines Wesens? Warum zerstört er, was wir bauen, zerschlägt er, was wir erhoffen, warum nimmt er uns die Bleibe, wo immer wir rasten, warum stachelt er Volk um Volk gegen uns zu ewig erneuertem Haß? Warum prüft er uns, und immer nur uns, so hart, die er zuerst sich erlesen und als die ersten eingetan in sein Geheimnis? Nein, ich werde nicht lügen vor einem Kinde, denn wenn seine Frage Lästerung ist, dann bin ich ein Lästerer selbst an jedem Tage meines Lebens. Sehet, ich bekenne es vor euch allen: auch ich, sosehr ich mich wehre, auch ich rechte mit Gott ohne Ende, auch ich frage, achtzig Jahre alt, noch immer die Frage dieses arglosen Kindes Tag für Tag: warum stößt gerade uns Gott so tief in die Not? Warum duldet er unsere Entrechtung und hilft noch den Räubern im Raub? Und schlage ich mir auch tausendmal dann die Faust gegen die Brust in Beschämung, ich kann ihn doch nicht erdrücken und ersticken, diesen fragenden Schrei. Kein Jude wäre ich und kein Mensch, quälte mich nicht täglich diese Frage, und nur im Tod wird sie verstummen auf meiner Lippe.«
Die andern Greise erschauerten. Nie hatten sie Kab ve Nake, den Reinen und Klaren, den immer Gerechten, in solchem Aufruhr gesehen: aus einem Innersten, das er sonst allen verschloß, mußte diese Anklage gefahren sein, und fremd schien er ihnen allen, wie er dastand, bebend an allen Gliedern im Übermaß des Schmerzes und schamvoll den Blick weggewendet von dem Kinde, das verwundert das fragende Auge gegen ihn erhob. Doch schon hatte sich Rabbi Elieser wieder gesammelt, und abermalens sich beugend zu dem Knaben beschwichtigte er ihn:
»Verzeih, daß ich zu jenen sprach und zu einem andern über uns allen, statt dir Antwort zu geben. Du hast mich gefragt, mein Kind, aus der Einfalt deines Herzens: warum duldet Gott diesen Frevel an uns und an ihm? Und ich antworte dir aus der Einfalt meines Geistes, so redlich ich vermag, ich antworte dir: – ich weiß es nicht. Denn wir kennen nicht Gottes Pläne und ahnen nicht seine Gedanken. Aber immer, wenn ich selbst mit ihm rechte in der Torheit meines Schmerzes und im Übermaß unseres gemeinsamen Leidens, dann versuche ich mich zu trösten, indem ich mir sage: vielleicht ist ein Sinn in dem Leiden, das er uns zumißt, und vielleicht büßen wir jeder eine Schuld. Wer kann sagen, wer sie begangen? Vielleicht war Schelomo, der Weise, unweise, da er den Tempel baute zu Jeruscholajim, als wäre Gott ein Mensch und begehrte Bleibe zu haben an einer einzigen Stätte und unter einem einzigen Volke. Vielleicht war es Sünde, daß er so prunkvoll das Haus ihm errichtet, als wäre Gold mehr als Frommheit und Marmel mehr als innerer Bestand. Vielleicht war es gegen Gottes Willen, daß wir jüdisches Volk sein wollten wie die andern und Heimat haben und Haus, daß wir sagten, unser Land sei dies, und sagten: unser Tempel und unser Gott, wie man sagt: meine Hand und mein Haar. Vielleicht hat er deshalb den Tempel zerschlagen und von der Heimat uns losgerissen, daß wir unseren Sinn nicht an Sichtbares hängten, sondern nur innerlicher Art ihm treu blieben; dem Unerreichbaren und Unsichtbaren. Vielleicht ist unser wahrer Weg dies, daß wir immer am Wege sind, wehmütig zurückblickend und sehnsüchtig voraus, immer nach Ruhe begehrend und immer doch ruhelos; denn immer ist nur dies ein heiliger Weg, dessen Ziel man nicht kennt und den man beharrlich doch schreitet, so wie wir hier ins Dunkle und Gefährliche schreiten diese Nacht und nicht kennen ihren Ausgang.«
Der Knabe lauschte. Aber Rabbi Elieser war zu Ende:
»Nun aber frage nicht mehr. Denn dein Fragen ist weiter als mein Wissen. Warte und gedulde dich: vielleicht antwortet dir Gott
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