Stefan Zweig - Gesammelte Werke
das verlorene Heiligtum ihres Volkes, und wehe, in ebendemselben Blick, da sie das geliebteste Wahrzeichen erschauten, ging es schon wieder dahin in die Fremde! Mit beiden Händen, der rechten und der linken, stemmte der breitschultrige Neger die goldene Menorah hoch, um die schwere, überschwere Last im Gleichgewicht zu halten, während er dem schwanken Brett der Lauftreppe zueilte: fünf Schritte, vier Schritte noch und für immer war das Heiligtum entschwunden! Wie nachgezogen von geheimer Kraft, drängten die elf Greise, einer den andern haltend, bis zur Lauftreppe nach, halbblind den Blick von Tränen, und mit wirren Worten floß ihnen vom Mund der Speichel. Wie Trunkene taumelten sie vorwärts, lechzenden Mundes, lechzenden Blicks, um wenigstens noch im frommen Kusse das heilige Zeichen zu berühren. Nur einer, Rabbi Elieser, blieb klar, selbst inmitten seines Schmerzes. Unbändig – und der Griff tat dem Kinde so weh, daß es beinahe aufschrie – preßte er die Hand des Knaben.
»Sieh hin, sieh hin! Du wirst der letzte sein, der unser Heiliges gesehen! Du wirst der Zeuge sein, wie sie es nahmen, wie sie es raubten!«
Das Kind begriff nicht die Worte. Aber es fühlte den Schmerz der andern bis tief hinein ins Blut und empfand, daß hier ein Unrecht geschah. Ein Zorn, ein kindischer Zorn fuhr brennend durch und durch seinen Leib. Ohne zu wissen, was es tat, riß das Kind, das siebenjährige, sich los und sprang dem Neger nach, der eben die Lauftreppe betrat, mühsam schwankend unter dem schweren Gewicht. Nein, er sollte den Leuchter nicht nehmen, dieser fremde Mensch! Sinnlos warf sich das Kind gegen den mächtigen Mann, ihm den Raub zu entreißen.
Der Sklave, schwer beladen, schwankte unter dem plötzlichen, unerwarteten Stoß. Es war nur ein Kind, das an seinen Arm sich hängte, aber, mühsam sich selber im Gleichgewicht haltend auf dem schwingenden schmalen Brett, trat der Sklave taumelnd ins Leere unter dem jähen Anfall von rückwärts her und stürzte hin, das Kind mit sich reißend. Dabei entrollte ihm der Leuchter. Wuchtig donnerte er nieder mit seinem ganzen Gewicht auf den rechten Arm des mitgerissenen Kindes. Einen ungeheuren Schmerz spürte der Knabe, als sei Fleisch und Bein ihm zerstampft und zermalmt, gellend heulte er auf. Aber dieser Schrei ging unter im jähen Aufschwall der andern. Denn alle schrien jetzt zugleich: die Greise vor Entsetzen über den Frevel, daß die heilige Menorah abermals in den Kot hinrollte; von den Schiffen wiederum lärmten zornig die Vandalen. Schleunig sprang der Aufseher zu und trieb mit der Peitsche die schreienden Greise zurück. Inzwischen war der Sklave schon erbittert aufgestanden, mit dem Fuß weg stieß er das stöhnende Kind, abermals schulterte er den Leuchter und trug ihn nun rasch wie ein Fliehender die Lauftreppe hinauf, auf das Schiff.
Die elf Greise achteten nicht des Kindes. Keiner merkte sein stöhnend gekrümmtes Liegen, denn sie blickten nicht nieder zur Erde. Nur auf den Leuchter blickten sie, der jetzt auf den Schultern des Sklaven die Lauftreppe emporstieg, die sieben Kelche wie ein Opfer zu Gott gehoben, schauernd sahen sie zu, wie an Bord gleichgültig fremde Hände ihn faßten und hinwarfen zur andern Beute. Da aber schrillte schon ein Pfiff, die Kette klirrte den Anker herauf, und unten im unsichtbaren Raum, wo die Galeerensträflinge gekettet waren an ihre Bänke, holten vierzig Ruder aus zu geschlossenem Schlag vor und zurück, vor und zurück. Mit einem Ruck sprang das Schiff an. Weiß lief Schaum über den Kiel, rauschend glitt es dahin, schon hob und senkte sich sein brauner Leib auf den Wellen, als ob es atmete und lebte, und mit geblähten Segeln steuerte die Galeone von der Reede aus geradewegs in das offene, unendliche Meer. Die elf Greise starrten dem entschwindenden Schiffe nach. Abermals hatten sie einander gefaßt an den Händen und beteten wieder, eine einzige Kette von Schauer und Schmerz. Alle hatten sie heimlich gehofft, ohne daß einer dem andern es anvertraute: jetzt noch und jetzt werde ein Wunder geschehen! Aber leicht und gekost vom zärtlichen Winde glitt mit gerundeten Segeln das Schiff durch die Flut, und je kleiner sein Umriß ward in der Ferne, desto kläglicher schmolz die Hoffnung in ihren Herzen und verlor sich im riesigen Meere ihrer Trauer. Schon schimmerte das Schiff nur mehr klein wie die Schwinge einer Möwe, und schließlich – die Tränen verdunkelten ihren Blick – gewahrten sie nichts als
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