Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Blick; nur die Klagegesänge lasen sie einander vor, die erzählen von der Zerstörung des Tempels und vom Untergang Jeruscholajims, und obwohl jedes Wort dieser schmerzvollen Gesänge längst eingebrannt war bis zum innersten Tropfen des Blutes, sagten die Gläubigen sie sich aber und abermals vor, um den Schmerz zu schärfen und zu fühlen, wie aber und abermals der geschärfte ihr Herz zerschnitt. Nichts wollten sie fühlen denn Leid an diesem dunkelsten Tage, und so besannen sie zu ihrer eigenen Verstoßenheit und Bedrücktheit noch der Toten Leid und Bedrücktheit; all ihres Volks schweres Geschick erneuerten sie sich einer dem andern im Wort und das Leiden der Vorzeit. Und wie diese in Rom, so hockten und saßen, bestäubten Haars und zerrissenen Gewands, in allen Städten und Gemeinden der Erde die Juden bei den Gräbern und sprachen und lasen von einem Ende der Welt bis zum andern die gleichen Klagen zur gleichen Stunde, die Klage Jeremias, wie die Tochter Zion gefallen und zum Spott geworden der Völker. Und sie wußten, dieses Leid und diese Klage gemeinsamen Verstoßenseins waren ihre einzige Einheit auf Erden.
Indes sie so saßen und murmelten und klagten und sich das Herz zerrieben mit dem Schmerz der Erinnerung, merkten sie nicht, wie die Sonne immer goldener wurde und die dunklen Stämme der Pinien und Zypressen, gleichsam von innerem Licht erhellt, rötlich zu glühen begannen. Sie merkten nicht, daß der neunte Ab, der Tag der großen Trauer, langsam zu Ende ging und die Stunde nahte des letzten Gebets. Da klirrte außen das rostige Tor des Friedhofs. Sie hörten wohl, daß einer eintrat, aber sie erhoben sich nicht, und auch der Fremde stand still wartend, bis das Gebet gesprochen war. Dann erst blickte der Vorsteher der Gemeinde den Eingetretenen an und grüßte: »Gesegnet sei, der da kommt. Friede mit dir, Jude.«
»Gesegnet seien, die hier weilen«, antwortete der Fremde. Und abermals fragte der Vorsteher:
»Woher kommst und welcher Gemeinde bist du?«
»Die Gemeinde, in der ich gewesen, sie ist nicht mehr; auf einem Schiff bin ich geflohen von Karthago. Großes hat sich ereignet. Justinian, der Kaiser, hat von Byzanz ein Heer geschickt gegen die Vandalen, und Belisar, sein Feldherr, hat Karthago gestürmt, die Zwingburg der Piraten. Gefangen ist der König der Vandalen, vernichtet sein Reich. Alles, was die Räuber genommen in Jahren und Jahren, hat Belisar gebeutet und führt es nach Byzanz. Der Krieg ist zu Ende.« Die Juden blickten gleichgültig und stumm, ohne aufzustehen. Was war ihnen Byzanz, was ihnen Karthago – Edom dies alles und Amalek, der ewige Feind. Ewig führten diese heidnischen Völker sinnlose Kriege, bald siegten diese, bald siegten jene, und nie die Gerechtigkeit. Was ging sie das an? Was war Karthago, was Rom, was Byzanz ihrem Herzen, das nur einer Stadt sich sorgte: Jeruscholajims.
Nur Benjamin Marnefesch, der bitter Geprüfte, hob stark jetzt den Blick:
»Und der Leuchter?«
»Er ist heil. Belisar hat ihn erbeutet. Und ich habe vernommen, mit all den andern Schätzen bringt er ihn hinüber nach Byzanz.«
Jetzt erst schraken die andern auf. Jetzt erst begriffen sie Benjamins Frage: abermals sollte der heilige Leuchter in Fremdnis wandern. Wie ein Pechbrand warf sich die Botschaft in das dunkle Gebäu ihrer Trauer. Sie sprangen auf von der Erde, sie drängten über die Gräber, umringten den Fremden, sie schluchzten und weinten:
»Wehe! Nach Byzanz!… Abermals über das Meer!… Abermals in fremdes Land… Noch einmal werden sie ihn hinschleppen im Triumph wie Titus, der Verfluchte… Immer in anderes Land und nie nach Jeruscholajim… Wehe, wehe über uns!«
Es war, als hätte man mit heißem Stahl an eine alte Wunde gerührt. Denn dunkel war Unruhe in ihnen allen und Angst, wenn die Heiligtümer der Lade wanderten, müßten sie selbst wieder in die Fremde hinaus, abermals, abermals Heimat suchen, die keine Heimat war. So ging es, seit der Tempel zerstört war, und immer wieder ward ihr Leben zerstört. Der vergangene Schmerz und der neue strömten wild ineinander. Alle schrien sie, schluchzten und klagten, und die kleinen Vögel, die friedlich saßen auf uraltem Stein, stoben auf und entflüchteten vor der Männer heißem Tumult.
Nur einer, Benjamin, der Uralte, war still auf dem vermoosten Steine sitzengeblieben und schwieg, während die andern wirrten und weinten. Ohne daß er es wußte, hatten sich seine Hände zusammengetan; wie ein Träumender saß er
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