Stefan Zweig - Gesammelte Werke
und lächelte still vor sich gegen jene Grabtafel hin, in die das Bildnis der Menorah gegraben war. Mit einemmal leuchtete in seinem verwitterten und weißumwirrten Greisengesicht etwas auf von dem Kinde, das er gewesen in jener Nacht, die Falten fielen auseinander, die Lippen lösten sich lind, und es war, als ging das leise Lächeln von dem Mund über seinen ganzen Leib, da er nach innen lauschte, über sich selber gebückt.
Endlich ward einer des Alten gewahr, und er schämte sich seiner eigenen Wildheit. Ehrfürchtig blieb er stehen und rührte leise den Nächsten an. Einer nach dem andern verstummte, und alle blickten sie jetzt atemlos auf den Greis, dessen Lächeln wie eine weiße Wolke hinging über ihren dunklen Schmerz. Es ward still wie bei den Toten unter der Erde, deren Gräber sie dunkelnd umstanden.
An dem völligen Schweigen erst spürte Benjamin, daß alle auf ihn blickten. Mühsam, denn er war schon gebrechlich, hob er sich auf von dem zerschlagenen Stein, auf dem er gesessen; allen schien er plötzlich mächtig wie noch nie, wie er dastand, silbern umbuscht das Antlitz und wie weiße Lohe das Haar lodernd um die kleine seidene Kappe. Nie fühlten sie innerlich so sehr wie in dieser Stunde, daß der Marnefesch, der bitter Geprüfte, auch ein Gesendeter war. Benjamin aber begann, und es war die Frommheit eines Gebets in seinem Wort:
»Nun weiß ich, warum mich Gott aufgespart bis zu dieser Stunde. Immer fragte ich mich, wozu breche ich noch unnütz das Brot, wozu spart mich der Tod, mich ausgemüdeten, unnützen Greis, der nur mehr nach Schweigen verlangt. Schon war ich kleinmütig geworden, denn zu viel Leiden sah ich in unserem Volke, und mir müdete die Zuversicht. Doch nun begreife ich, daß eines mir noch auferlegt ist in diesem Leben. Ich habe den Anfang gesehen, nun ruft mich das Ende.«
Ehrfürchtig lauschten die andern dem Dunkel seiner Rede. Endlich fragte einer, der Vorsteher, leise: »Was willst du tun?«
»Ich glaube, nur dazu hat mir Gott das Leben und das Licht des Auges so lange bewahrt, daß ich noch einmal den Leuchter erschaue. Ich muß nach Byzanz. Vielleicht, was dem Kinde mißlang, das Heilige für uns zu lösen, vielleicht vollbringt es der Greis.«
Alle bebten vor Erregung und Ungeduld. Unglaubhaft schien es zwar jedem, daß dieser brüchige Greis den Leuchter zurückzugewinnen vermöge von dem mächtigsten Kaiser der Erde, und doch war es betörend, das Wunderbare zu glauben. Nur ein einziger fragte besorgt:
»Wie könntest du so weite Reise bestehen? Bedenke, drei Wochen sind es auf dem winterlichen Meer. Du bist, ich fürchte, nicht stark genug für die Mühsal.«
»Man ist immer stark, wenn es das Heilige gilt. Auch damals, als sie mich mit sich nahmen, ein unmündiges Kind, meinten sie, der Weg sei zu mühsam, und doch ging ich ihn voll bis ans Ende. Nur dies wird not tun, denn mein Arm ist zerschlagen, daß einer mich begleite, ein Rüstiger, damit er mir helfe, und ein Junger, damit er einst Zeuge sei späterem Geschlecht, wie ich es geworden dem euern.«
Er wandte die Augen suchend im Kreise und sah einen nach dem andern der jüngeren Männer an, als wollte er sie prüfen. Jeder bebte unter diesem tastenden Blick und spürte seine Spitze bis an das verstummende Herz. Jeder ersehnte, er möge gewählt werden für die Sendung, und jeder war zu scheu, sich zu melden. Alle warteten sie, die Seele erregt. Aber der Alte senkte unsicher das Haupt und murmelte nur:
»Nein, ich will nicht entscheiden. Nicht mein sei die Wahl. Man werfe die Lose. Gott soll mir den Rechten erwählen.«
Die Männer traten zusammen, zogen Halme aus dem wuchernden Gras der Gräber, zerbrachen sie in größere und kleinere Stücke und teilten sie untereinander. Das Los entschied für Jojakim ben Gamaliel, einen Zwanzigjährigen, der groß und kräftig war, ein Schmied seines Zeichens, aber sie liebten ihn nicht. Denn er war unkund der Schrift und ungeduldiger Art. Blut war an seinen Händen, er hatte einen Syrer in Smyrna im Streite erschlagen und war nach Rom geflohen, ehe die Häscher ihn faßten. Ärgerlich wunderten sie sich alle im stillen, daß das Los gerade diesen Störrischen und Wilden getroffen statt eines Ehrfürchtigen und Frommen. Aber der Alte blickte, da Jojakim als der Gewählte vortrat, nur flüchtig auf und befahl ihm:
»Rüste alles. Morgen abend reisen wir.«
Den ganzen Tag nach diesem neunten Ab verbrachte die römische Gemeinde in aufgeregter Tätigkeit. Keiner der
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