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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Juden pflegte sein eigen Geschäft, ein jeder brachte und sammelte Geld, und die arm waren, borgten auf Pfand, und die Frauen gaben ihre Spangen und Steine. Denn immer mehr wuchs in ihnen allen die Gewißheit, daß dieser auserwählt sei, die Menorah zu lösen aus der neuerlichen Haft und den Kaiser zu bestimmen, wie einstens Kyros, das Volk mit den heiligen Geräten heimzusenden in die Heimat. Tag und Nacht schrieben sie Briefe an alle die Gemeinden des Ostens, nach Smyrna und Kreta und Saloniki, nach Tarsos, Nycäa und Trapezunt, sie sollten Sendlinge schicken nach Byzanz und Gelder sammeln, auf daß man die heilige Tat der Befreiung vollende. Sie mahnten die Brüder in Byzanz und Galata, Benjamin Marnefesch, dem bitter Geprüften, als dem Berufenen gewaltigen Geschehens im voraus jeden Weg zu bereiten; gleichzeit rüsteten die Frauen Mäntel und Kissen und Zehrung für die Reise, damit die Lippen des Frommen nichts Unreines berühren müßten auf dem Schiffe. Und obwohl es den Juden Roms verboten war, im Wagen zu fahren oder zu Pferde zu reiten, bestellten sie heimlich ein Gefährt außerhalb des Tores, damit nicht schon ermüdet der Greis die Ausfahrt beginne.
    Aber sehr verwunderten sie sich, als Benjamin sich weigerte, das Fahrzeug zu besteigen. Zu Fuß wolle er die Straße nach Portus schreiten, forderte eigensinnig der Alte, wie er sie vor mehr denn achtzig Jahren, ein schwächliches Kind, gegangen in jener Nacht. Unmöglich und überkühn schien ihnen vorerst das Unterfangen, der sonst Hinfällige wolle eigenen Fußes hinwandern bis an das Meer. Aber sie staunten, da sie ihn anblickten, denn wie verwandelt war er seit jener Botschaft. Es schien, als sei über Nacht Kraft zurückgekehrt in seine Glieder und neue Wärme geströmt in sein altes Blut. Seine Stimme, sonst matt und geschwächt, klang jetzt, da er beinahe zornig ihre Sorge abwehrte, herrisch und stark; und voll Ehrfurcht gehorchten sie ihm.
    Die ganze Nacht begleiteten die jüdischen Männer von Rom Benjamin Marnefesch, den Erlesenen ihrer Gemeinde, auf demselben Wege, den dereinst ihre Ahnen geschritten, um den Leuchter des Herrn zu geleiten. Heimlich hatten sie dennoch eine Trage mitgenommen, den Greis darin weiterzuführen, sollte ihm vorzeit die Kraft erlahmen. Aber der alte Mann ging rüstig den Weg und allen voran. Mit keinem sprach er, und sein Sinn gehörte ganz der vergangenen Zeit. An jedem Stein und jeder Wende des Wegs, den er seit jener Nacht nie mehr geschritten, ward ihm die mächtige Stunde seiner Kindheit immer heller gewärtig. An alles erinnerte er sich, was damals geschehen, er hörte die Stimmen der Toten im lauen Wind, jedes Wort ward wach, das jeder gesprochen. Da zur Rechten hatte die Feuersäule geflammt von dem brennenden Hause, hier der Meilenstein gestanden, an dem sie erloschenen Herzens gezagt, als die numidischen Reiter gegen sie sprengten. Jeder Frage entsann er sich, die er gefragt, jeder Antwort, die ihm geworden. Und als er an jene Stelle kam, wo damals morgens die Alten an dem Rand der Straße ihr Gebet gesprochen, da nahm er, wie es jene getan, Gebetmantel und Riemen, um, nach Osten gewandt, das gleiche Gebet zu sprechen, das schon Väter und Urväter des Morgens gesprochen und das, im Blute bewahrt und dunkel weiterfließend von Geschlecht zu Geschlecht, seine Kinder und Enkelsöhne sprechen würden und deren fernste Erben.
    Hinter ihm staunten scheu die andern, sie verstanden nicht sein sonderlich Tun. Denn näher gegen Herbst als bei dem damaligen Gange war diesmal die Zeit des Jahres, kein Schimmer der Frühe am Himmel zu gewahren und noch weit die Stunde vor Tag: wie durfte ein Frommer das Morgengebet sprechen, ehe es dämmerte? Gegen allen Brauch war dies und grober Verstoß gegen Überlieferung und Schrift. Aber dennoch blieben sie ehrfürchtig um den Betenden geschart. Denn was er, der Erlesene, tat, konnte nicht Unrecht sein. Diesem war diesmal, so fühlten sie, alles erlaubt, und wenn er noch vor dem Licht den Dank an Gott sprach für das geschaffene Licht, so war es gerecht.
    Der Alte faltete, gesprochenen Gebets, den Mantel wieder zusammen und schritt rüstig weiter, als hätten die frommen Worte ihn erfrischt. Da sie endlich an den Hafen kamen, starrte er lange hinaus auf das Meer; das Kind ward in seiner Seele lebendig, das verschollene, in ihm längst vergangene Kind, das damals zum erstenmal Woge und Ferne erschaut. Es war dasselbe Meer wie vor achtzig Jahren: tief und unergründlich wie Gottes

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