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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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seinen gesehen. Wie vor frommem Bildnis beugten sie sich vor dem Greise in Ehrfurcht, mit ergriffenem Schrecken blickten sie auf den gelähmten Arm und tasteten mit den Fingern die Hand an, die einstens den Leuchter des Herrn berührt. Und obwohl sie jeglicher wußten – denn in jenen Zeiten lief die Rede so rege über die Welt wie heute die Schrift –, was Benjamin Marnefesch widerfahren in jener Nacht, ließen sie nicht ab, ihn zu bitten, daß er immer und immer die Wanderung ihnen von neuem berichtete. Und mit ewig gleicher Geduld erzählte dann jedesmal der Greis von der Ausfahrt des Leuchters, und von dem Busch seines Barts ging ein Glänzen aus, wenn er verkündete, was Rabbi Elieser, der Reine und Klare – längst war sein Leib in die Grube gefahren –, ihm damals verheißen. Nicht zu verzagen mahnte er sie, denn noch sei die Wanderung des heiligen Zeichens nicht vollendet; wiederkehren werde der Leuchter nach Jeruscholajim und enden ihre eigene Verstoßenheit, wieder werde sich sammeln das Volk um sein gerettetes Zeichen. So gingen sie alle getröstet von ihm, und in ihr Gebet verflochten sie seinen Namen, daß er lange bleiben möge mit seinem Volke, er, der Tröster, der Zeuge, der letzte, der das Heiligtum des Tempels gesehen.
    Und Benjamin, der bitter Geprüfte, das Kind jener verschollenen Nacht, ward siebzig Jahre und ward achtzig und ward fünfundachtzig und ward siebenundachtzig. Schon beugten sich mählich seine Schultern unter der wuchtenden Zeit, undeutlich ward ihm das Auge, und manchmal ermüdete er mitten im Tag. Aber keiner der Juden Roms wollte glauben, daß der Tod Macht haben könne über ihn, denn sein Dasein bedeutete ihnen Unterpfand eines großen Geschehens. Undenkbar schien es jedem, daß diese irdischen Augen, die den Leuchter des Herrn gesehen, auslöschen konnten, ohne die Heimkehr der Menorah erlebt zu haben, und als ein Wahrzeichen göttlichen Willens hüteten sie seine Gegenwart. Es war kein Fest ohne ihn und kein Dienst ohne seinen Namen. Wenn er ging, beugten sich fromm die Ältesten vor dem Uralten, jeder sprach den Spruch des Segens nach seinen Schritten, und wo immer sie sich einten zu Sorge und Fest, war der oberste Platz an ihrem Tische ihm bereitet.
    So ehrten die Juden Roms Benjamin Marnefesch auch diesmal als den Ältesten und Würdigsten der Gemeinde, da sie sich, wie es die Sitte gebot, auf dem Friedhof versammelten an dem traurigsten Tag ihres Jahres, dem neunten Ab, dem Tag der Zerstörung des Tempels, jenem Tage, dem düster gedächtnisvollen, der ihre Väter heimatlos gemacht und wie Salz gestreut über die Länder der Erde. Nicht in ihrem Bethause saßen sie, das hatte jüngst der feindliche Pöbel geschändet, sondern ihren Toten verlangte es sie nahe zu sein an diesem tödlichen Tage; außerhalb der Stadt, wo ihre Väter eingegraben waren in fremde Erde, versammelten sie sich, um die eigene Fremdheit einer dem andern zu klagen. Zwischen den Gräbern saßen sie und manche auf bereits zerbrochenen Steinen; sie wußten, bei ihren Vätern saßen sie, Söhne auch ihrer Trauer, und lasen auf den Tafeln der Ahnen Namen und ihr Lob. In manchen der Steine waren über dem Namen bildliche Zeichen gemeißelt, zwei gekreuzte Hände als Zeugnis der Priesterschaft oder der waschende Krug der Leviten oder ein Löwe oder Davids Stern. Eine der aufrechten Platten zeigte im Abbild den siebenarmigen Leuchter, die Menorah, um zu künden, daß, der hier in ewigem Schlummer ruhte, ein Weiser und selbst eine Leuchte in Israel gewesen. Vor diesem Grabstein und den Blick ihm zugewandt, saß Benjamin Marnefesch im Kreise der andern, Asche aufs Haupt gestreut und die Kleider zerrissen wie die andern, die Weiden gleich sich beugten und neigten über die schwarzen Gewässer ihres Leides.
    Es war spät am Nachmittag, und die Sonne senkte sich schon schräge in die Pinien und Zypressen. Falter von satter Buntheit schwirrten um die hockenden Juden wie um vermorschte Stämme, Libellen mit regenbogenfarbigen Flügeln setzten sich sorglos auf ihre gebeugten Schultern, und im fetten Grase spielten Käfer um ihren Schuh. Würzig fächelte im golden glänzenden Laub Wind heran, ein samtig weicher Abend war nah, aber die Juden hoben die Augen und hoben die Herzen nicht auf. Immer und immer stießen sie sich in neue Trauer hinab, immer und immer neu sich erinnernd der Geschlagenheit ihres Volks in gemeinsamer Klage. Sie aßen nicht, sie tranken nicht, sie wendeten nicht ins Helle des Tages den

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