Stefan Zweig - Gesammelte Werke
ewigen und naturhaften Dingen, diese Stunde oder halbe Stunde völliger Abgelöstheit von den Geschehnissen und Geschäften scheint mir durch ihre entspannende Kraft – ihr »relaxing« – jene wunderbare, uns unbegreifliche oder zumindest unerreichbare Ruhe der englischen Menschen zu bewirken. Inmitten einer veränderlichen und zerstörbaren Welt werden sie täglich daran erinnert, daß das Wesentliche unserer Erde, daß ihre Schönheit unberührbar bleibt von dem Wahnwitz der Kriege und den Torheiten der Politik; wenn sie den Tag beginnen oder den Tag enden, haben sie durch diese Berührung eine Festigung und Beruhigung erfahren, die, auf Millionen Menschen summiert, in einer ganzen Nation dann als Charakter in Erscheinung tritt; diese unzählbaren kleinen bescheidenen Gärtchen, die auch an das ärmlichste Haus sich anschmiegen mit ihren paar Sträuchern, ihrem Kranz von Blumen und ihrem nutzhaften Grün, sie sind das große Palliativ dieses Volkes gegen Nervosität, gegen Unsicherheit und laute Schwatzhaftigkeit. Aus ihnen erneuert sich Tag für Tag die für uns Nichtengländer fast unbegreiflich stetige Ruhe und Gelassenheit des Einzelnen wie die Kraft der ganzen Nation, und sie schaffen uns damit ein großartiges Schauspiel seelischer Beständigkeit, fast ebenso großartig wie jenes der Natur.
Das Wien von gestern
Vortrag 1940
W enn ich zu Ihnen über das Wien von gestern spreche, soll dies kein Nekrolog, keine oraison funèbre sein. Wir haben Wien in unseren Herzen noch nicht begraben, wir weigern uns zu glauben, daß zeitweilige Unterordnung gleichbedeutend ist mit völliger Unterwerfung. Ich denke an Wien, so wie Sie an Brüder, an Freunde denken, die jetzt [1940] an der Front sind. Sie haben mit ihnen Ihre Kindheit verbracht, Sie haben Jahre mit ihnen gelebt, Sie danken ihnen glückliche gemeinsame Stunden. Nun sind sie fern von Ihnen und Sie wissen sie in Gefahr, ohne ihnen beistehen, ohne diese Gefahr teilen zu können. Gerade in solchen Stunden erzwungener Ferne fühlt man sich den Nächsten am meisten verbunden. So will ich zu Ihnen von Wien sprechen, meiner Vaterstadt und einer der Hauptstädte unserer gemeinsamen europäischen Kultur.
Sie haben in der Schule gelernt, daß Wien von je die Hauptstadt von Österreich war. Das ist nun richtig, aber die Stadt Wien ist älter als Österreich, älter als die habsburgische Monarchie, älter als das frühere und das heutige deutsche Reich. Als Vindobona von den Römern gegründet wurde, die als bewährte Städtegründer einen wunderbaren Blick für geographische Lage hatten, gab es nichts, was man Österreich nennen konnte. Von keinem österreichischen Stamm ist jemals bei Tacitus oder bei den anderen römischen Geschichtsschreibern berichtet. Die Römer legten nur an den günstigsten Stellen der Donau ein Castrum, eine militärische Siedlung an, um die Einfälle wilder Völkerschaften gegen ihr Imperium abzuwehren. Von dieser Stunde an war für Wien seine historische Aufgabe umschrieben, eine Verteidigungsstätte überlegener Kultur, damals der lateinischen, zu sein. Inmitten eines noch nicht zivilisierten und eigentlich niemandem gehörenden Landes werden die römischen Grundmauern gelegt, auf denen sich in späterer Zeit die Hofburg der Habsburger erheben wird. Und zu einer Zeit, wo rund um die Donau die deutschen und slawischen Völkerschaften noch ungesittet und nomadisch schwärmen, schreibt in unserem Wien der weise Kaiser Marc Aurel seine unsterblichen Meditationen, eines der Meisterwerke der lateinischen Philosophie.
Die erste literarische, die erste kulturelle Urkunde Wiens ist also nahezu achtzehnhundert Jahre alt. Sie gibt Wien unter allen Städten deutscher Sprache den Rang geistiger Anciennität, und in diesen achtzehnhundert Jahren ist Wien seiner Aufgabe treugeblieben, der höchsten, die eine Stadt zu erfüllen hat: Kultur zu schaffen und diese Kultur zu verteidigen. Wien hat als Vorposten der lateinischen Zivilisation standgehalten bis zum Untergang des römischen Reiches, um dann wieder aufzuerstehen als das Bollwerk der römisch-katholischen Kirche. Hier war, als die Reformation die geistige Einheit Europas zerriß, das Hauptquartier der Gegenreformation. An Wiens Mauern ist zweimal der Vorstoß der Osmanen gescheitert. Und als in unseren Tagen abermals das Barbarentum vorbrach, härter und herrschwilliger als je, hat Wien und das kleine Österreich verzweifelt festgehalten an seiner europäischen Gesinnung. Fünf Jahre lang hat es
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