Stefan Zweig - Gesammelte Werke
seit Hitlers Machtübernahme kommen sehen, näher und näher, man hatte alles getan, um ihn wegzuhalten, weil man sein Grauen kannte. Man wußte aus Erfahrung, aus Beobachtung, daß er kein romantisches Fabeltier war, sondern eine gigantische, mit allen Teufelskünsten der Technik ausgerüstete Maschine, die in ihrem langen Umlauf tagtäglich ungeheure Massen an Menschen und Geld verbraucht. Man gab sich keinen Illusionen hin. Niemand jubelte, jeder erschrak, jeder wußte, daß für sein Land, für die Welt jetzt Jahre der Verdüsterung kommen würden. Man nahm den Krieg hin, weil man ihn hinnehmen mußte als etwas Unvermeidliches.
Das war 1939. Aber obwohl ich das wußte, ja diese stoische Haltung als die einzig natürliche erwartete, wurde mir England zur Überraschung, und ich lernte in den Tagen des Krieges mehr über dieses Volk als vordem in Jahren. Die erste Erfahrung war der erste Tag. Ich hatte zufällig in einem Amte zu tun, der Beamte stellte ein Dokument für mich aus, als die Tür sich öffnete und ein anderer Beamter eintrat und meldete: »Deutschland ist in Polen eingerückt. Das ist der Krieg. I have to leave at once.« Er sagte es mit völlig ruhiger Stimme, als machte er eine kleine amtliche Mitteilung. Und während mir das Herz stille stand und ich (warum mich schämen?) meine Finger zittern fühlte, schrieb der Beamte vor mir ruhig das Dokument zu Ende, reichte es mir mit dem leichten freundlichen englischen Lächeln. Hatte er nicht verstanden? Glaubte er es nicht? Aber ich trat auf die Straße. Sie war völlig still, die Menschen gingen weder schneller noch erregter. Sie wissen es noch nicht, dachte ich abermals. Sonst könnten sie nicht so ruhig, so gefaßt jeder seiner Beschäftigung nachgehen. Aber schon kamen die Zeitungen weiß flackernd herangeweht. Die Leute kauften sie, lasen sie und gingen weiter. Keine erregten Gruppen, selbst in den Geschäften kein nervöses Beieinanderstehen. Und so dann die ganzen Wochen hindurch, jeder still, gelassen seinen Dienst tuend, keiner sichtbar erregt, jeder ruhig entschlossen und schweigsam: wären nicht gewisse äußere Sichtbarkeiten wie der black-out oder die in England ungewohnte Häufigkeit der Uniformen, niemand könnte nach der bloßen Haltung der Menschen hier vermuten, dieses Land kämpfe einen der schwierigsten und entscheidendsten Kriege seiner Geschichte.
Diese Unerschütterlichkeit gerade in Augenblicken, wo Erregung, Leidenschaft, Nervosität bei allen anderen Nationen unaufhaltsam durchbricht, bleibt für uns Nichtengländer das Geheimnisvolle am englischen Charakter. Man hat es so oft versucht, dies An-sich-Halten psychologisch zu erklären: durch eine angeborene Straffheit der Nerven oder durch die Systematik der Erziehung, die schon das Kind daran gewöhnt, Gefühle oder zumindest ihren sichtlichen Ausdruck zu verbergen. Aber ich glaube, man unterschätzt ein tieferes Element: die ständige Verbundenheit mit der Natur, die etwas von ihrer großen Gelassenheit unsichtbar auf jeden Menschen überträgt, der in dauernder Zwiesprache mit ihr lebt. Lange glaubte ich – wie die meisten – des Engländers Liebe und Vorliebe sei sein Haus. Aber in Wahrheit ist es sein Garten. Jemand hat in England jüngst gezählt, daß es hierzulande dreieinhalb Millionen Gärten gibt – fast jedes Haus, ja jedes Häuschen hat den seinen, und von den Großstädtern, die in den Flats Londons wohnen, besitzen viele ein Weekendhaus, in das sie sich die ganze Woche lang sehnen um des Gartens und seiner Blumen willen. So arbeiten Millionen von Engländern, diesen angeblich so unromantischen Engländern, im Weekend oder nach ihrer eigentlichen Arbeit in ihrem Garten oder Gärtchen: abends oder morgens nimmt der Arbeiter, der Beamte, der Minister, der Clerk und der Reverend sein Gartenwerkzeug zur Hand, gräbt die Erde um oder schneidet die Sträucher und pflegt seine Blumen. In dieser täglichen Beschäftigung des »gardening«, das nicht Sport ist und nicht Arbeit und nicht Spiel, sondern all dies in Übergängen ineinander schattiert, sind alle Engländer solidarisch, alle sozialen Unterschiede verschwunden, die Distanzen zwischen Arm und Reich aufgehoben: selbst der Earl und der Duke, der sein Dutzend Gärtner beschäftigt, ist seinem Garten nicht minder persönlich verbunden als der Lokomotivführer den armen paar Squares Grün hinter seinem Häuschen. Und diese eine Stunde täglich oder diese halbe Stunde mit Blumen, mit Bäumen, mit Früchten, mit den
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