Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Propyläen-Ausgabe, ließ ein anderes Prinzip vorwalten, das zwar Goethe selbst einmal streng verpönt hatte, das aber doch einen unvergleichlichen psychologischen Reiz ausübt, nämlich die chronologische Anordnung. In dieser Ausgabe sind die einzelnen Werke nicht in Gruppen zusammengestellt, sondern nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung, und stärker als in jeder andern spürt man da nicht nur das Sein der Goetheschen Produktion, sondern auch das allmähliche Werden. Auch sie ist eine richtige Goetheausgabe, so verschieden sie von den anderen ist, und eigentlich hätte man Neigung, diese drei vorbildlichen Ausgaben, die gleichsam die Forschung, die Lektüre und seine Lebensentwicklung vorstellen, alle drei zu besitzen, was aber heute in der Zeit der Buchteuerung und der Wohnungsnot für einen Privaten einen wohl kaum erfüllbaren Wunsch bedeutet.
Nun kommt noch in schwerster deutscher Stunde eine vierte in ihrer Art mustergültige Ausgabe, bei Ullstein dazu, wiederum eine vollständige, aber wiederum eine nach einem anderen Prinzip geordnete. Sie übernimmt die chronologische Anordnung der Propyläen-Ausgabe, aber übernimmt sie doch nur innerhalb der einzelnen Gruppen. Sie bringt nicht wie in jener einzig die Zeit der Entstehung berücksichtigenden, Tagebuchblätter und Gedichte mit Dramen vermengt, sondern stellt erst innerhalb jeder einzelnen Gruppe im Drama, der Lyrik, Epik die einzelnen Werke in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge dar. Sie läßt ebenso wie die Insel-Ausgabe die textkritischen Anmerkungen und Urformen der Handschriften weg, fügt aber ein neues Element bei, nämlich Einleitungen für jeden Band, und diese Einführungen sind vielfach von hohem Reiz. Es wurden so ziemlich die besten Dichter des gegenwärtigen Deutschland, die ersten Philosophen und Essayisten gewonnen, je einen Band mit einer Übersicht einzuführen: den Einklang gibt Gerhart Hauptmann, der gleichzeitig bescheidene und bedeutende Worte voranstellt, die zwar das Problem Goethes nicht formulieren wollen, aber gewissermaßen eine Heiligsprechung, eine ehrfürchtige Begrenzung des Namens bedeuten. Die eigentliche Gesamteinführung ist Georg Simmels Aufsatz ›Die Werte des Goetheschen Lebens‹ anvertraut, der sachlich, allzu sachlich die philosophischen Probleme erläutert und ihnen durch geistige Zusammenfassung höchsten Rang gibt. Bedeutend ist dann noch der unvergeßliche Aufsatz Hugo von Hofmannsthals, der den ›West-Östlichen Diwan‹, die subtilen Studien Hermann Bahrs, Hermann Hesses und Jakob Wassermanns die einzelne Prosabände einleiten, während die Aufsätze Eulenbergs und Cäsar Flaischlens für Lyrik und jene von Ernst Hardt über die Dramen nicht ganz an die Tiefe des Gegenstandes herankommen. Aber doch geben alle diese kurzen Vorklänge manchem Leser eine willkommene Einführung in die dichterische Sphäre und werden so sicherlich jenen, die nicht selbst ununterbrochen mit dem Goetheschen Problem als dem Zentralgestirn der deutschen Dichtung beschäftigt sind, vielfache Anregung geben. Bisher sind zwölf Bände dieser auch äußerlich handlichen und durchaus empfehlenswerten Ausgabe bei Ullstein erschienen, die das dichterische Werk schon ganz umschließen, und denen die nächsten acht Bände über Naturwissenschaft, Philosophie und Geologie bald nachfolgen sollen. Mit verdoppelter Bewunderung muß man auf diese Leistung hinweisen, da sie inmitten der schwersten und schwierigsten Verhältnisse entstanden ist und zu verhältnismäßig erschwinglichem Preise die Möglichkeit gibt, den ganzen Goethe zu genießen und sich zu gewinnen.
Für welche der einzelnen Ausgaben sich der einzelne entscheidet, welche er als die richtige empfinden wird, ist nun jedem anheimgestellt. Alle enthalten sie die ganze unübersehbare Fülle Goethes, und jede wird die richtige, sobald der einzelne daraus die Wesenheit des Gewaltigen ahnend, genießend, forschend und durchdringend für sich selbst gewinnt. Jede enthält das Ganze, jedem ist darin die unendliche Fülle gegeben, jeder vermag sich nun in persönlicher Wahl daraus sein zeitlich Teil anzueignen. Seinen richtigen Goethe, denn er ist so groß, der Gewaltige, daß wir immer nur eine Spur seiner Ganzheit für uns zu fassen vermögen.
Anmerkungen zu Balzac
Belletristisch literarische Beilage der Hamburger Nachrichten 1906, S. 3-4
E ine sehr löbliche Tat ist zu vermelden. Ein junger Verlag Franz Ledermann hat sich an ein schweres Werk gewagt, an eine Übertragung Honoré de
Weitere Kostenlose Bücher