Steh dir nicht im Weg
negative Gedanken
Bei kleinen Kindern kann man manchmal beobachten, dass es tatsächlich Entscheidungssache sein kann, ob sie nach einem Sturz zum Beispiel anfangen zu weinen oder zu lachen – je nachdem, was für ein Gesicht die Mama macht. Guckt sie ganz mitfühlend und erschrocken, wird geweint, muss die Mutter angesichts der Situationskomik lachen, kann es sein, dass das Kind mitlacht.
Die innere Einschätzung, ob man eine Situation eher zum Lachen oder zum Weinen findet, läuft irgendwann völlig automatisiert ab. Da wir immerzu alle Situationen und alle Ereignisse innerlich bewerten, entwickeln sich die dazugehörigen Gedanken quasi wie ein Reflex. Das heißt, in Bruchteilen von Sekunden können wir mehrere Bewertungen vornehmen, ohne uns dessen voll bewusst zu sein. Das ist auch in vielen Fällen angenehm, denn es macht den Alltag viel handhabbarer. Es erlaubt uns, Situationen sehr schnell und effizient zu analysieren, ohne erst mühsam jedes Mal mit dem Verstand Fakten zusammentragen zu müssen. So wissen wir zum Beispiel meistens sofort, wie die Stimmung in einem Raum ist, den wir gerade betreten. Wir sind uns häufig augenblicklich darüber im Klaren, wer uns sympathisch ist und wer nicht. Wir bewegen uns im Großen und Ganzen sicher im Straßenverkehr. Vieles von dem, was zu unserer Arbeit gehört, läuft fast von allein. Diese blitzschnellen Einschätzungen auch gänzlich neuer Erfahrungen beruhen auf den vielen vergangenen Erfahrungen und Einschätzungen.
Die Fähigkeit, automatisiert denken zu können, ist also in vielen Situationen von Vorteil, denn sie ermöglicht es uns, unser komplexes Leben zu bewältigen. Doch in bestimmten Fällen erweist sich |29| genau diese Fähigkeit auch als ein Nachteil. Denn wenn wir auf Einschätzungen zurückgreifen, die wir als Kind gemacht haben, mit unseren eingeschränkten Möglichkeiten von damals, wird das längst nicht mehr den Möglichkeiten gerecht, die wir als Erwachsene haben. Mit einem bestimmten Geschehen werden automatisch bestimmte Gedanken verknüpft. »Er kommt nicht pünktlich, weil ich ihm nichts wert bin!«, denkt man vielleicht, weil man als Kind die traurige Erfahrung gemacht hat, dass man in der Familie nicht viel zählte. Solche Bewertungen des Verhaltens eines anderen lösen schließlich unsere Gefühle aus. Und die Gefühle sind der Teil des Vorgangs, den wir wieder bewusst wahrnehmen: Ich fühle mich wütend, ängstlich, traurig und so weiter.
Da die Gedanken, die zu unseren Gefühlen führen, nicht bewusst wahrgenommen werden, sondern automatisiert ablaufen, fehlt uns dieses Stück in der Ereigniskette. So kommt es, dass wir die tatsächliche Ereigniskette »Er kommt nicht pünktlich, das bewerte ich für mich als Lieblosigkeit, und weil ich so darüber denke, fühle ich mich einsam, traurig und wütend« verkürzen zu der Schlussfolgerung »Er kommt nicht pünktlich, das macht mich traurig«. Welche Erfahrungen und Erlebnisse, welche Botschaften unserer Eltern und anderer wichtiger Bezugspersonen in unserer Kindheit dazu beigetragen haben, dass wir jene automatisierten Bewertungen vornehmen, darüber sprechen wir in Kapitel 14,
Lebensskript und automatisierte negative
Gedanken
und Kapitel 15,
Innere »Antreiber« – die Gebote
zum Lebensskript
, die sich mit den »Einschärfungen« und den »Antreibern« befassen.
Automatisierte Gedanken schießen uns zwar ohne das bewusste Zutun unserer Wahrnehmung durch den Kopf, doch sind sie nicht so verselbstständigt, dass sie dem Bewusstsein überhaupt nicht mehr zugänglich wären. Wenn Sie Ihr Augenmerk darauf richten, ihnen auf die Spur kommen zu wollen, können Sie Ihre automatisierten Gedanken identifizieren. Das ist in etwa mit der Situation vergleichbar, dass Sie Ihre Umgebung und die damit verbundenen Geräusche nicht mehr wahrnehmen, wenn Sie sich sehr |30| konzentriert irgendeiner Tätigkeit widmen, doch sobald Sie sich wieder bewusst auf die Umgebung konzentrieren, können Sie auch wieder alles um sich herum hören.
Wie Sie zwischen Gefühlen und Bewertungen unterscheiden
Machen Sie an dieser Stelle einmal die Probe aufs Exempel und durchdenken Sie für sich selbst, welche Gefühle Sie in verschiedenen Situationen empfinden. Versuchen Sie herauszufinden, welches Ihr eigener Anteil daran ist, was also situationsunabhängig ist. Vermutlich wird Ihnen dabei schnell auffallen, dass Ihr Anteil fast immer in der Bewertung der Situation liegt.
Es lohnt sich für Sie, diese Arbeit
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