Steh zu dir
transportiert wurden. Der Rettungseinsatz war beeindruckend gut organisiert, wie ein Nachrichtensprecher hervorhob. Aber angesichts des Ausmaßes dieser Katastrophe waren die Möglichkeiten schlichtweg beschränkt. Die gezündeten Bomben waren von solcher Explosionskraft gewesen, dass sie ganze Stücke aus den Wänden des Tunnels herausgerissen hatten. Wenn man die immer noch lodernden Flammen und den dichten schwarzen Rauch sah, der aus dem Tunnel herausquoll, war kaum vorstellbar, dass überhaupt jemand dieses Inferno überlebt hatte.
Carole war durch die Wucht der ersten Explosion in eine kleine Nische in der Tunnelwand geschleudert worden. Das war ihr großes Glück. So wurde sie nicht von den Flammen überrollt und gehörte zu den Ersten, die von Feuerwehrwehrmännern hinausgetragen wurden. Sie hatte eine tiefe Schnittwunde in der Wange, einen gebrochenen Arm, Verbrennungen an beiden Armen und im Gesicht und eine schwere Kopfverletzung. Bewusstlos wurde sie auf einer Trage zum Notarztwagen gebracht. Nach einer raschen Beurteilung der Schwere ihrer Verletzungen wurde sie intubiert und in die Klinik La Pitié Salpêtrière gefahren. Dort lieferte man die schwersten Fälle ein. Ihre Verbrennungen waren nicht so schlimm wie die vieler anderer, aber ihre Kopfverletzung war lebensbedrohlich.
Ihre Personalien konnten nicht festgestellt werden, da sie keine Papiere bei sich hatte. Die lagen auf dem Schreibtisch im Hotel, und da sie nicht einmal den Zimmerschlüssel mitgenommen hatte, war sie das namenlose Opfer eines Terroranschlags in Paris. Als Carole in die Notaufnahme geschoben wurde, hing ihr Leben an einem seidenen Faden. Ein Team von Ärzten stand bereit. Die zwei Ambulanzen, die vor ihnen eingetroffen waren, hatten nur noch Tote einliefern können.
Die diensthabende Ärztin in der Notaufnahme wirkte wenig zuversichtlich, nachdem sie Carole untersucht hatte. Die Schnittwunde im Gesicht war zwar übel, aber nicht bedrohlich. Auch der gebrochene Arm musste warten, bis er von dem herbeigerufenen Orthopäden geschient wurde.
Ihre Verbrennungen waren zweiten Grades. Ernsthaft Sorgen bereitete ihr die Kopfverletzung. Sofort wurde eine Computertomografie des Schädels angeordnet. Bevor sie jedoch damit beginnen konnten, setzte plötzlich Caroles Herz aus. Sie konnte zwar reanimiert werden, aber ihr Kreislauf drohte jeden Moment zusammenzubrechen.
Während ein Neurochirurg Carole untersuchte, wurden weitere Verletzte eingeliefert. Endlich konnte auch das CT gemacht werden. Der Chirurg entschied, mit einer Operation noch zu warten. Caroles Zustand war nicht stabil genug, und sie hätte den Eingriff wahrscheinlich nicht überlebt. Ihre Verbrennungen wurden behandelt und der Arm geschient. Erst gegen Morgen wurde es in der Notaufnahme etwas ruhiger. Der Neurochirurg untersuchte Carole ein zweites Mal. Die Schwellung des Gehirns bereitete ihnen Sorgen. Bislang konnte niemand sagen, ob sie überlebte, und wenn ja, ob dauerhafte Schäden zurückblieben.
»Ist ihre Familie hier?«, fragte der Neurochirurg mit düsterer Miene. Die Angehörigen wollten vermutlich, dass sie die Sterbesakramente empfing. Bei den meisten der hier nach dem Anschlag eingelieferten Opfer war das der Fall.
»Nein. Wir konnten niemanden verständigen. Sie hatte keine Papiere bei sich«, erklärte ihm die diensthabende Ärztin der Notaufnahme. Er nickte. In dieser Nacht gab es einige nicht identifizierte Opfer. Aber früher oder später suchten Verwandte und Freunde nach ihnen, und sie wurden erkannt. Momentan spielte das keine Rolle. Alle Verletzten erhielten die bestmögliche Versorgung. Drei Kinder hatten in dieser Nacht bereits sterben müssen. Sie hatten schlimmste Verbrennungen erlitten. Der Neurochirurg versprach, in einer Stunde wieder nach Carole zu sehen. Sie blieb unter ständiger Beobachtung, angeschlossen an lebenserhaltende Maschinen. Noch immer schwebte sie zwischen Leben und Tod.
Am Mittag legte sich der Neurochirurg im Arztzimmer auf eine Liege, um ein bisschen zu schlafen. Sie behandelten hier zweiundvierzig Opfer des Bombenanschlags. Laut Polizeiangaben waren insgesamt achtundneunzig Menschen verletzt und mindestens einundsiebzig ums Leben gekommen. Aber noch immer waren nicht alle Opfer aus dem Tunnel herausgeholt. Es war eine lange, schreckliche Nacht gewesen.
Als der Arzt vier Stunden später nach Carole sah, war ihr Zustand unverändert. Allerdings ergab ein zweites CT, dass die Gehirnschwellung nicht weiter zugenommen
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