Steh zu dir
die Kleidungsstücke in den Schrank. Dann nahm sie in der überdimensionalen Wanne ein heißes Bad und wickelte sich in die flauschigen rosa Badetücher. Anschließend zog sie sich warm an. Um halb drei spazierte sie mit einer Hand voll Euros in der Tasche durch die Lobby. Den Schlüssel gab sie an der Rezeption ab. Durch den schweren Messinganhänger war er zu sperrig, um ihn mitzunehmen. Und Carole hatte nie eine Handtasche dabei, wenn sie loszog. Das war ihr zu lästig. Sie setzte die Kapuze auf und durchquerte mit gesenktem Kopf die Lobby. Rasch schlüpfte sie durch die Drehtür und setzte draußen sofort ihre Sonnenbrille auf. Die Tropfen hatten sich mittlerweile in feinen Sprühnebel verwandelt, den sie zart auf der Haut fühlte. Sie schritt die Eingangsstufen vor dem Ritz hinab und trat auf den Place Vendóme. Niemand beachtete sie. Carole war eine namenlose Spaziergängerin in Paris, nicht mehr und nicht weniger. Sie steuerte auf den Place de la Concorde zu und wollte von dort aus zum linken Seineufer. Es war ein ziemlich langer Spaziergang, aber sie hatte sich darauf eingestellt. Zum ersten Mal seit vielen Jahren konnte sie in Paris tun und lassen, was sie wollte. Sie musste sich weder Seans Gejammer anhören noch ihre Kinder beschäftigen. Sie brauchte es niemandem recht zu machen. Hierherzukommen war die beste Entscheidung gewesen, die sie treffen konnte. Nicht einmal der Novemberregen verleidete es ihr. Der schwere Mantel hielt sie warm, und in den Schuhen mit Gummisohlen bekam sie keine nassen Füße. Sie blickte hoch zum Himmel, holte tief Luft und lächelte. Es gab keine aufregendere Stadt als Paris, gleichgültig bei welchem Wetter. Nirgendwo war der Himmel so schön wie hier, das hatte sie immer schon gedacht. Jetzt hing er wie eine glänzende graue Perle über den Hausdächern.
Sie ging am Hotel Crillon vorbei auf den Place de la Concorde mit den Brunnen und Statuen, an denen der Verkehr vorbeirauschte. Carole blieb lange stehen und sog die Seele dieser Stadt in sich auf. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, ging sie dann weiter in Richtung des linken Seineufers. Sie war froh, die Handtasche im Hotel gelassen zu haben. Alles, was sie brauchte, war genug Geld, um sich zurück ein Taxi zu nehmen, falls sie sich zu weit vom Hotel entfernte oder zu müde war, um den ganzen Weg zurückzulaufen.
Carole liebte es, durch Paris zu spazieren. Das hatte sie oft getan, als die Kinder noch klein waren. Sie war mit ihnen überall gewesen, bei sämtlichen Sehenswürdigleiten, in den Museen, zum Spielen im Bois de Bologne, dem Jardin des Tuileries und dem Parc de Bagatelle. Sie hatten die Jahre hier genossen, obwohl sich Chloe kaum noch daran erinnerte und Anthony damals froh war, wieder nach Hause zurückzukehren. Er vermisste Baseball, Hamburger, Milchshakes, das amerikanische Fernsehen und den Superbowl. Carole hatte ihn nie davon überzeugen können, dass das Leben in Paris weitaus aufregender war. Sie hatten alle drei Französisch gelernt. Anthony beherrschte es noch ein bisschen, Chloe gar nicht mehr, und sie selbst hatte im Flugzeug erfreut feststellt, dass sie nicht alles verlernt hatte. Damals hatte es zu ihrem Alltag gehört, und sie konnte es zum Schluss fließend. Das vermochte sie nicht mehr, aber es klappte noch ganz gut, mit den bei Amerikanern typischen Verwechslungen von le und la. Jemand, der nicht mit dieser Sprache aufgewachsen war, schaffte es nur schwer, fehlerfrei zu sprechen. Aber als sie hier lebte, war sie dem ziemlich nahe gekommen und hatte ihre französischen Freunde damit beeindruckt.
Über die Pont Alexandre III ging sie hinüber zum linken Seineufer in Richtung Invalidendom. Sie spazierte die Quais entlang, vorbei an den Antiquitätenhändlern, an die sie sich gut erinnerte. Dann ging sie die Rue Saint Pères hinunter und bog in die Rue Jacob. Carole war hierher zurückgekehrt wie eine Brieftaube, die nach Hause flog. Während der ersten acht Monate in Paris hatte das Filmstudio für sie ein Apartment gemietet. Aber es war zu klein und beengt für sie, beide Kinder, eine Assistentin und eine Nanny. Schließlich waren sie vorübergehend ins Hotel gezogen. Carole hatte die Kinder in einer amerikanischen Schule angemeldet, und nachdem der Film abgedreht war, entschied sie sich, in Paris zu bleiben. Kurz darauf entdeckte sie dieses Haus. Es war ein echtes Juwel mit viel Charme und einem hübschen kleinen Garten. Die Zimmer der Kinder und der Nanny lagen im Obergeschoss, mit
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