Steh zu dir
sie jahrelang verdrängt hatte. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Nachts in ihren Träumen sah sie die Menschen aus ihrer Vergangenheit vor sich. Jeden Morgen stand sie erschöpft auf.
Am häufigsten tauchte Seans Gesicht auf. Er war der Einzige, bei dem sie sicher sein konnte, ihn wirklich gekannt zu haben. Ihre Beziehung war klar und aufrichtig gewesen. Das konnte sie von allen anderen nicht behaupten. Und ausgerechnet er war so erpicht darauf gewesen, dass sie dieses Buch schrieb. Sie schuldete es ihm. Es war ihr letztes großes Geschenk an ihn.
Sean war ein sanfter, liebevoller Mann gewesen, immer rührend um sie bemüht. Anfangs hatte er Stabilität und Ruhe in ihr Leben gebracht, und gemeinsam schufen sie eine solide Basis für ihr Leben zu zweit. Er hatte nie versucht, sie zu vereinnahmen oder gar zu erdrücken. Ihre Ehe wurde zu einer Reise, bei der sie sich in angenehmem Tempo Seite an Seite voranbewegten. Ihre acht Jahre mit Sean waren etwas, das einem nur einmal im Leben widerfährt. Carole konnte sich nicht vorstellen, sich jemals wieder zu verlieben oder gar zu heiraten. Sie hatte Sean während der letzten beiden Jahre vermisst, aber nicht beweint. Seine Liebe war so sättigend gewesen, dass sie jetzt noch davon zehrte. Wie alle Paare hatten auch sie ihre Auseinandersetzungen und Unstimmigkeiten gehabt, aber niemals hatten sie einander verletzt. Sie hatten gestritten und hinterher gemeinsam darüber gelacht. Keiner von ihnen war nachtragend, und in ihren Auseinandersetzungen gab es auch nicht die Spur von Boshaftigkeit.
Als sie sich kennenlernten, war Carole vierzig und Sean fünfunddreißig. Obwohl er fünf Jahre jünger war als sie, hatte er ihr in vielerlei Hinsicht als Vorbild gedient, vor allem, was seine Ansichten betraf. Sie war damals sehr erfolgreich und drehte mehr Filme, als ihr lieb war. Jahrelang wurde sie davon angetrieben, eine Karriere zu verfolgen, die ihr zunehmend mehr abverlangte. Als sie Sean kennenlernte, lebte sie erst seit fünf Jahren in Los Angeles. Zuvor hatte sie zweieinhalb Jahre in Paris gewohnt. Seit ihrer Rückkehr aus Frankreich hatte es keine ernste Beziehung mit einem Mann gegeben. Dazu fehlte ihr einfach die Zeit – oder auch das Verlangen. Sie ging zwar mit Männern aus, aber in der Regel blieb es bei wenigen Treffen.
Einige waren ebenfalls aus dem Filmgeschäft, zumeist Regisseure oder Autoren, andere stammten aus kreativen Bereichen wie Kunst, Architektur oder Musik. Es waren durchaus interessante Männer gewesen, aber Carole hatte sich nie verliebt und war davon überzeugt, dass es auch nie wieder passieren würde. Bis Sean kam.
Sie trafen sich auf einer Konferenz, bei der es um die Rechte von Schauspielern in Hollywood ging, und hatten beide an einer Podiumsdiskussion über den Wandel der Rolle von Frauen beim Film teilgenommen. Dass er fünf Jahre jünger war, stellte für sie beide kein Problem dar. Sie waren Seelenverwandte, das Alter war bedeutungslos. Einen Monat nachdem sie sich kennengelernt hatten, flogen sie übers Wochenende nach Mexiko. Drei Monate später zog er bei ihr ein, und sechs Monate später waren sie verheiratet. Sean hatte sie davon überzeugt, dass es für sie beide das Richtige sei. Und er hatte recht gehabt. Carole hatte befürchtet, dass sich ihre Berufe gegenseitig behindern würden und es zu Konflikten käme. Aber wie Sean es versprochen hatte, waren ihre Ängste unbegründet. Ihre Beziehung schien gesegnet zu sein.
Dann erkrankte Sean an Krebs. Und so, wie er gelebt hatte, schied er auch dahin – friedlich und still. Offenbar war es für ihn der natürliche Übergang in eine andere Welt. Da er aber großen Einfluss auf ihr Leben gehabt hatte, fühlte sie sich ihm weiterhin nahe. Er hatte sie gelehrt, seinen Tod als nächsten Schritt auf seinem Weg zu akzeptieren.
Zwei Jahre war er nun schon tot, und sie vermisste ihn, sein Lachen, seine Stimme, seine Klugheit, seine Gesellschaft, ihre langen Spaziergänge am Strand. Und doch war er auch bei ihr, reiste an ihrer Seite wie zu der Zeit, als er noch lebte. Ihn zu kennen und zu lieben war eines der größten Geschenke gewesen, die sie vom Leben bekommen hatte. Vor seinem Tod hatte er sie daran erinnert, dass sie noch viel zu tun hätte, und sie gedrängt, wieder mit dem Arbeiten anzufangen. Er wollte, dass sie noch viele Filme drehte und dieses Buch schrieb. Sean hatte ihre Kurzgeschichten und Essays immer geliebt, und im Laufe der Jahre hatte sie Dutzende von Gedichten für ihn
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