Steh zu dir
ovalen Fenstern und einem Mansardendach.
Die Zimmer eine Etage tiefer hätten sogar Marie Antoinette alle Ehre gemacht. Sie waren groß, besaßen hohe Decken, holzvertäfelte Wände und bodentiefe Fenster mit Blick auf den Garten. Überall lagen noch die Originalböden. Der Kamin aus rosafarbenem Marmor war noch funktionstüchtig. Neben ihrem Schlafzimmer hatte Carole ein Ankleidezimmer, ein Arbeitszimmer und ein Bad mit riesiger Wanne, in der sie gemeinsam mit Chloe badete oder sich allein entspannte. Im Erdgeschoss gab es ein großes Wohnzimmer, ein Esszimmer, eine Küche und einen Zugang zum Garten. Im Frühling und Sommer hatten sie meistens draußen gegessen. Das Haus war im 18. Jahrhundert für eine Kurtisane gebaut worden. Carole hatte nie seine ganze Geschichte erfahren, aber man konnte sich leicht vorstellen, wie romantisch sie gewesen sein musste.
Das Tor zum Innenhof war offen, und Carole trat ein. Sie blieb stehen und schaute hoch zu ihrem ehemaligen Schlafzimmerfenster. Wer mochte jetzt dort wohnen?, fragte sie sich. Ob die Menschen in diesem Haus wohl glücklich waren? Sie selbst war zwei Jahre lang in diesem Haus glücklich gewesen, bis dann das traurige Ende kam. Schweren Herzens hatte sie Paris damals verlassen. Allein der Gedanke ließ sie die ganze Qual wieder spüren. Als würde sie die Türen öffnen, die sie lange verschlossen gehalten hatte.
Sie erinnerte sich an Gerüche und Geräusche. An die Begeisterung der Kinder und das Glück, sich ein neues Leben aufzubauen. Und dann gingen sie Hals über Kopf zurück in die Staaten. Es war eine schwere Entscheidung gewesen und eine traurige dazu. Noch immer fragte sie sich, ob sie damals richtig gehandelt hatte. Alles wäre anders verlaufen, wenn sie geblieben wären. Aber als sie jetzt hier stand, spürte sie, das Richtige getan zu haben, zumindest für ihre Kinder. Und vielleicht auch für sie selbst. Selbst nach fünfzehn Jahren war das nicht leicht zu sagen.
Deshalb war sie hergekommen, das wurde ihr erneut bewusst. Sie wollte herausfinden, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war. Wenn sie das erst einmal wusste, würde sie auch die Antworten für ihr Buch kennen. Sie reiste auf dem Weg ihres Lebens zurück. Wenn das Buch auch Fiktion war, so musste sie dennoch erst die Wahrheit wissen, bevor sie eine Geschichte entwickeln konnte. Ihr war klar, dass sie den Antworten sehr lange aus dem Weg gegangen war, aber jetzt fühlte sie sich mutig genug, ihnen entgegenzutreten.
Mit gesenktem Kopf verließ sie den Innenhof und stieß dabei mit einem Mann zusammen, der gerade durch das Tor trat. Er sah sie überrascht an, und sie entschuldigte sich auf Französisch. Er nickte und ging weiter.
Carole spazierte noch eine Weile am Seineufer entlang und betrachtete die Auslagen der Antiquitätenhändler. An einer kleinen Bäckerei, zu der sie oft mit den Kindern gegangen war, machte sie Halt, kaufte sich Macarons und knabberte unterwegs daran. Diese Gegend war für sie voller bittersüßer Erinnerungen, die sie wie eine Welle bei hohem Seegang überspülten. Aber es fühlte sich nicht durchweg schlecht an. So vieles ging ihr durch den Kopf, und plötzlich wollte sie nur noch schnell ins Hotel zurück, um zu schreiben. Auf einmal wusste sie, welche Richtung das Buch nehmen und wo sie anfangen musste. Sie würde den bisherigen Anfang umschreiben. Während sie darüber nachdachte, winkte sie ein Taxi heran. Fast drei Stunden war sie jetzt umhergelaufen, und es wurde bereits dunkel.
Sie nannte dem Fahrer die Adresse, und sie fuhren los. Carole saß im Fond des Wagens und dachte über ihr altes Haus nach und über all das, was sie bei dem Spaziergang an diesem Nachmittag gesehen hatte. Seit ihrer Abreise vor vielen Jahren war es das erste Mal, dass sie wieder durch Paris lief und es sich gestattete, über die Vergangenheit nachzudenken. Ihr Besuch mit Sean in dieser Stadt war etwas ganz anderes gewesen, und als sie mit Stevie herkam, um das Haus aufzulösen, war sie wie unter einer Lawine der Trauer verschüttet gewesen. Sie hatte es gehasst, das Haus zu verkaufen, aber es zu behalten machte absolut keinen Sinn. Los Angeles war zu weit weg, und sie drehte dort einen Film nach dem anderen. Es gab auch keinen Grund mehr, nach Paris zurückzukehren. Aber jetzt war sie hier. Und die Erinnerungen ängstigten sie nicht mehr. Dadurch, dass sie Sean verloren hatte, konnte sie sich anderen Verlusten in ihrem Leben stellen. Das hatte Sean sie gelehrt.
Als das Taxi in den
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