Steh zu dir
geschrieben. Er hatte sie in einem Lederordner gesammelt und Stunden damit verbracht, sie immer wieder zu lesen.
Bevor er starb, hatte sie nicht die Zeit gefunden, mit dem Buch zu beginnen. Sie war zu sehr damit beschäftigt, ihn zu pflegen. Ein Jahr lang hatte sie keinerlei Verpflichtungen angenommen, um genügend Zeit für ihn zu haben. Insbesondere nach der Chemotherapie wenige Monate vor seinem Tod hatte sie sich aufopfernd um ihn gekümmert. Er war bis zum Schluss tapfer gewesen. Am Tag vor dem Ende waren sie spazieren gegangen. Sie konnten keine weiten Ausflüge unternehmen und auch nicht viel sprechen. Sie gingen Hand in Hand. Sobald er eine Pause brauchte, setzten sich irgendwo hin und betrachteten den Sonnenuntergang. Sie weinten beide, weil sie wussten, dass das Ende nahte. In der darauffolgenden Nacht starb er friedlich in ihren Armen. Er hatte sie noch einmal lange angesehen, zärtlich lächelnd geseufzt und dann für immer die Augen geschlossen.
Er war mit einer würdevollen Akzeptanz gestorben, die es Carole ermöglichte, beim Gedanken an ihn nicht von Trauer überwältigt zu werden. Allerdings hatte er eine Leere hinterlassen, die sie jetzt noch spürte. Und diese Leere wollte sie füllen, indem sie sich selbst besser verstand. Das Buch sollte ihr dabei helfen – wenn sie es denn je fertig bekam. Aber sie wollte zumindest versuchen, ihm und seinem Glauben an sie gerecht zu werden.
Als sie ihn kennenlernte, lebten ihre Kinder noch bei ihr. Auch das bereitete Carole damals Sorgen. Sean hatte keine eigenen Kinder, und sie bekamen auch kein gemeinsames.
Sie hatten sich darauf geeinigt, mit allem anderen genug ausgelastet zu sein. Stattdessen kümmerten sie sich umeinander und um ihre Beziehung. Als sie heirateten, besuchten Anthony und Chloe die Highschool. Das war einer der Gründe, warum sich Carole zu dieser Ehe entschloss. Sie wollte ihren Kindern kein Beispiel für eine wilde Ehe ohne jede Verpflichtung sein. Anthony und Chloe begrüßten ihre Entscheidung. Sean war ihnen ein guter Freund und Stiefvater, den sie gern um sich hatten. Mittlerweile waren ihre Kinder erwachsen und aus dem Haus.
Chloe hatte in Stanford studiert und gerade ihren ersten Job bei einem Modemagazin in London angetreten. Sie war die Assistentin der stellvertretenden Redakteurin für Accessoires. Es ging vor allem um Prestige und Spaß. Sie half beim Styling, bei den Vorbereitungen der Shootings und erledigte Besorgungen. Als Gegenleistung verdiente sie fast nichts, konnte sich aber rühmen, für die britische Vogue zu arbeiten. Chloe fand das toll. Sie sah ihrer Mutter ähnlich und hätte ohne weiteres selbst als Model arbeiten können, aber sie bevorzugte es, auf der redaktionellen Seite des Geschäfts zu stehen. Sie war ein aufgewecktes, kontaktfreudiges Mädchen, begeistert von den Menschen, die sie durch ihre Arbeit kennenlernte, und verbrachte eine schöne Zeit in London.
Anthony war in die Fußstapfen seines Vaters getreten und arbeitete an der Wall Street. Bevor er in die Finanzwelt ging, hatte er in Harvard seinen MBA gemacht. Er war ein ernsthafter, verantwortungsbewusster junger Mann, der seine Familie mit Stolz erfüllte. Anthony war sehr attraktiv, aber zurückhaltend und beinahe schüchtern. Er ging mit vielen hübschen, intelligenten Mädchen aus, aber bisher hatte ihm keine wirklich etwas bedeutet. Er arbeitete konsequent an seiner Finanzkarriere und verlor nie seine Ziele aus den Augen. Es gab nicht viel, was ihn davon abhielt, und wenn Carole ihn spätabends anrief, saß er oft noch im Büro.
Er und Chloe hingen nicht nur an Carole, sondern auch an Sean. Chloe hatte schon immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit von ihrer Mutter gebraucht als ihr Bruder. Sie beklagte sich bitterlich, wenn ihre Mutter zu Drehaufnahmen reiste. Besonders schlimm wurde es während der Highschool. Chloe wollte, dass ihre Mutter ständig für sie da war, so wie sie es bei den Müttern der anderen Kinder sah. Carole hatte sich deshalb schuldig gefühlt, obwohl sie die Kinder an den Set fliegen ließ, wann immer es möglich war. Und in den Drehpausen kam sie nach Hause, um bei ihnen zu sein. Anthony war im Gegensatz zu Chloe unkompliziert gewesen. Sie stellte ihren Vater auf einen Sockel und hielt ihrer Mutter oft vor, was sie alles falsch machte. Carole hatte sich gesagt, dass das bei Mutter-Tochter-Beziehungen nun mal so war. Die Mutter eines Sohnes zu sein, der sie verehrte, war weitaus leichter.
Und jetzt war Carole allein. Ihre
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