Steh zu dir
Kinder waren erwachsen und mit ihrem eigenen Leben beschäftigt.
Trotz Seans Krankheit war es eine Erleichterung gewesen, eine Weile in keinem Film mitzuspielen. Carole hatte viele Jahre hart gearbeitet und brauchte diese Pause. Eine Auszeit kam letztlich auch ihrer Schauspielkunst zugute. Im Laufe der Zeit hatte sie in wichtigen Filmen und auch in diversen Blockbustern mitgewirkt. Aber jetzt wollte sie mehr als das. Sie wollte ihrer Arbeit etwas Bedeutsames hinzufügen. Diese Tiefe erlangte man erst durch Reife und Lebenserfahrung. Mit fünfzig war sie noch nicht alt, aber die letzten Jahre hatten sie reifen lassen. Das würde sie unweigerlich in ihre Rollen einbringen. Und auch in ihr Buch, wenn sie es denn bewältigen konnte. Dieses Buch war für sie das Symbol, endgültig erwachsen geworden zu sein und sich von den Geistern der Vergangenheit befreit zu haben.
Die letzten Wochen waren jedoch entmutigend gewesen, und sie begann daran zu zweifeln, dass sie es jemals schaffte. Vielleicht hätte sie doch die Rolle annehmen sollen, die ihr im August angeboten worden war. Vielleicht sollte sie sich vom Schreiben verabschieden und wieder filmen. Mike Appelsohn, ihr Agent, wurde allmählich ungeduldig. Er regte sich darüber auf, dass sie gute Rollen ablehnte, und hatte genug davon, sich etwas von einem Buch erzählen zu lassen, das sie ja doch nicht schrieb.
Die Charaktere blieben vage, die Handlung und das Ende waren wie ein wirres Wollknäuel, mit dem die Katze gespielt hat. Carole konnte noch so angestrengt nachdenken, sie fand keinen Anfang. Es war unvorstellbar frustrierend.
Auf dem Regal über ihrem Schreibtisch standen zwei Oscars und der Golden Globe, den sie in dem Jahr vor Seans Krankheit verliehen bekam. Noch hatte Hollywood sie nicht vergessen, aber Mike Appelsohn versicherte ihr, dass es dazu käme, wenn sie nicht bald einen Film drehte. Mittlerweile waren ihr die Entschuldigungen ausgegangen, und sie hatte sich eine letzte Frist bis zum Ende des Jahres gesetzt. Bis dahin blieben noch zwei Monate, aber sie kam einfach nicht voran. Jedes Mal, wenn sie sich an den Schreibtisch setzte, geriet sie förmlich in Panik.
Carole hörte, dass hinter ihr leise eine Tür geöffnet wurde. Sie hatte nichts gegen eine Unterbrechung, ganz im Gegenteil. Sie wandte den Kopf und sah, dass Stephanie Morrow, ihre Assistentin, zögernd im Türrahmen stand. Stephanie war von Beruf Lehrerin. Carole hatte sie fünfzehn Jahre zuvor eingestellt, nach ihrer Rückkehr aus Frankreich. Damals hatte Carole das Haus in Bel Air gekauft, innerhalb eines Jahres zwei Filme gedreht und sich danach für ein Jahr in einem Broadwaystück verpflichtet. Nebenbei musste sie die Werbetrommel für ihre Filme rühren.
Sie hatte Unterstützung bei der Betreuung der Kinder und der Organisation des Haushalts gebraucht. Stephanie kam, um ihr für zwei Monate auszuhelfen – und blieb. Sie war eine attraktive Frau von mittlerweile neununddreißig Jahren, lebte mit ihrem Freund zusammen, hatte jedoch nie geheiratet. Er besaß Verständnis für ihre Arbeit und reiste selbst sehr viel. Und sie wollte weder heiraten noch Kinder haben. Sie zog Carole gern damit auf, dass sie ihr Baby sei. Carole revanchierte sich und nannte Stephanie ihr Kindermädchen. Sie war eine ausgezeichnete Assistentin, konnte hervorragend mit der Presse umgehen und sich in jede Situation hinein- und herausreden. Es gab nichts, das sie nicht zu managen vermochte.
Während Seans Krankheit wurde sie unentbehrlich. Sie war für Sean da, für die Kinder und für Carole. Sie half ihr sogar dabei, die Beerdigung zu planen und den Sarg auszusuchen. Im Laufe der Jahre war Stephanie mehr geworden als nur eine Angestellte. Trotz der elf Jahre Altersunterschied waren die beiden Frauen enge Freundinnen, die sich gegenseitig schätzten und respektierten. Bei Stevie, wie Carole sie nannte, gab es nie auch nur den Hauch von Eifersucht. Stephanie liebte ihren Job, freute sich über Caroles Erfolge und begegnete jedem neuen Tag mit Humor und Geduld.
Carole hing sehr an ihr und gab bereitwillig zu, dass sie ohne Stephanie verloren wäre.
Mit ihren 1,82 Meter, dem glatten schwarzen Haar und den großen braunen Augen stand sie jetzt in Jeans und T-Shirt an der Tür zu Caroles Büro. »Tee?«, flüsterte sie.
»Nein. Arsen«, antwortete Carole stöhnend und schwenkte mit dem Stuhl herum. »Ich kann dieses verdammte Buch nicht schreiben. Irgendetwas hält mich davon ab, und ich weiß nicht, was es ist.
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