Steh zu dir
paar Stunden Pause schaden niemandem. Im Gegenteil, sie werden allen guttun. Ich bleibe so lange bei ihr.« Sie alle fühlten sich jedes Mal schuldig, wenn sie Carole allein im Krankenhaus zurücklassen mussten. Wenn sie nun aufwachte, während alle fort waren? Leider sah es aber nicht danach aus. Stevie rief im Hotel an und buchte die Termine. Dann befahl sie Chloe, auf dem Weg ins Hotel an der Faubourg Saint Honoré einen Zwischenstopp einzulegen. Dort gab es jede Menge Schuhgeschäfte sowie exklusive Läden für Herrenbekleidung. Zwanzig Minuten später scheuchte sie alle wie eine Horde Kinder aus dem Zimmer und brachte sie zum Aufzug. Dankbar zogen sie los.
Stevie ging zurück in Caroles Zimmer. Als sie an der Schwester hinter dem Empfangstisch vorbeikam, nickte die ihr zu. Obwohl sie sich nie miteinander unterhielten, waren sie einander inzwischen vertraut.
Die Schwester, die sich heute um Carole kümmerte, war etwa in Stevies Alter. Stevie wünschte, sie könnte ein paar Worte mit ihr wechseln, aber dafür reichte ihr Französisch nicht. Stattdessen wandte sie sich Carole zu.
»Also gut, Kindchen, Schluss damit. Es wird Zeit, dass du in die Gänge kommst. Die Ärzte werden langsam sauer. Höchste Zeit aufzuwachen. Du brauchst eine Maniküre, und dein Haar ist in einem fürchterlichen Zustand. Die Möbel in deinem Zimmer hier sind auch nicht gerade stilvoll. Du solltest allmählich wieder ins Ritz ziehen. Davon abgesehen wartet da immer noch ein Buch auf dich, das geschrieben werden will.« In wenigen Tagen hatten sie bereits Thanksgiving. »Du musst aufwachen«, verlangte Stevie mit verzweifelter Stimme. »Das ist nicht fair den Kindern gegenüber. Oder sonst jemandem. Du hast noch nie aufgegeben, Carole. Und du hast jetzt genug geschlafen. Wach auf!« Ähnliches hatte sie in den düsteren Nächten nach Seans Tod zu Carole gesagt. Aber damals war Carole schnell wieder zu sich gekommen. Sie hatte gewusst, dass Sean es von ihr erwartete. »Langsam reicht es mir«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. »Und ich bin sicher, dir auch. Das ist doch furchtbar langweilig. Die Rolle der schlafenden Schönheit hatten wir jetzt lange genug.«
Nichts regte sich auf dem Bett. Stevie fragte sich, ob es überhaupt stimmte, dass jemand im Koma hören kann, wenn ein geliebter Mensch zu ihm spricht. Dennoch baute sie darauf. Den ganzen Nachmittag lang redete sie mit Carole, über ganz Alltägliches, so als könnte Carole sie wirklich hören. Die Schwester erledigte ihre Aufgaben und warf Stevie zwischendurch einen bedauernden Blick zu.
Die Ärzte und Schwestern waren nahe daran, die Hoffnung aufzugeben. Zu viel Zeit war seit dem Anschlag verstrichen. Caroles Chancen aufzuwachen schwanden zunehmend. Aber Stevie wollte sich dadurch nicht entmutigen lassen.
Um sechs Uhr am Abend, nachdem sie seit acht Stunden bei Carole gewacht hatte, entschloss sich Stevie, zu den anderen ins Hotel zurückzukehren. »Ich bin jetzt weg«, verabschiedete sie sich wie nach einem normalen Arbeitstag in L. A. »Und morgen will ich nichts mehr davon sehen, Carole. Genug ist genug. Heute habe ich dich noch mal gewähren lassen. Aber das reicht. Du hattest jetzt genügend Zeit. Morgen gehen wir zurück an die Arbeit. Du wachst auf, siehst dich hier mal um und frühstückst. Wir werden ein paar Briefe schreiben, und du hast Berge von Telefonaten zu erledigen. Mike hat jeden Tag angerufen. Mir gehen langsam die Entschuldigungen aus, warum du nicht mit ihm sprechen kannst. Du wirst ihn schon selbst anrufen müssen.« Ihr war klar, dass sie sich wie eine Irre anhörte, aber es war nun mal leichter, einfach so zu tun, als würden sie sich ganz normal unterhalten. Außerdem log sie nicht. Mike Applesohn hatte wirklich täglich angerufen, seit die Presse die Nachricht verbreitet hatte. Mike kannte Carole seit Ewigkeiten und war für sie wie ein Vater. Er hatte sie damals in einem Drugstore in New Orleans entdeckt. Dieses Jahr war er siebzig geworden, aber er war immer noch gut in Form und erfolgreich. Eigene Kinder hatte er nie gehabt, wahrscheinlich hing er auch deshalb so an Carole. Er hatte nach Paris kommen wollen, aber Jason bat ihn abzuwarten. Die Situation war für sie alle schon schwer genug, ohne dass sich noch mehr Leidtragende zu ihnen gesellten. Auch wenn es gut gemeint war. Stevie war dankbar, dass die Familie nichts dagegen hatte, dass sie die ganze Zeit blieb. Allerdings war sie allen eine große Hilfe. Im Grunde wären sie ohne sie
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