Steh zu dir
einfach an der Zeit«, erklärte Stevie bescheiden. Wenn auch ziemlich überfällig. Es waren für alle schreckliche Tage gewesen, ständig begleitet von Angst, Carole für immer zu verlieren. Eine derartige Erfahrung ließ einen das Leben mit anderen Augen sehen.
»Wir werden heute noch ein CT und eine Kernspintomograhie machen. Außerdem soll sich ein Sprachtherapeut ihre Reaktionen ansehen. Es kann sein, dass sie sich momentan noch nicht an die Wörter erinnert. Wir werden ihr einen kleinen Schubs geben, damit sie leichter in Gang kommt. Ich versuche einen Therapeuten zu finden, der Englisch spricht.« Stevie hatte der Ärztin zwar erzählt, dass Carole Französisch verstand, aber es war in jedem Fall besser, mit der Muttersprache zu beginnen.
»Wenn mir jemand zeigt, wie es geht, könnte ich auch mit ihr arbeiten«, erklärte sich Stevie sofort bereit. Die Ärztin lächelte wieder.
»Sie haben gestern bereits großartige Arbeit geleistet. Man weiß nie, was den Ausschlag gibt, jemanden aus dem Koma zurückzuholen.«
Jason und Stevie fuhren ins Hotel zurück, um es den Kindern zu erzählen. Er weckte die beiden auf.
»Mom?«, fragte Anthony schlaftrunken und ängstlich. Er war ein sechsundzwanzig Jahre alter Mann, aber sie war und blieb seine Mom.
»Sie ist aufgewacht«, sagte Jason leise. »Noch kann sie nicht sprechen, aber sie hat uns gesehen. Sie wird wieder gesund werden, mein Sohn.«
Anthony schluchzte vor Erleichterung. Es konnte zwar noch niemand sagen, wie weit sich Carole wieder erholen würde, aber sie war am Leben und lag nicht länger im Koma.
Chloe schlang ihrem Vater die Arme um den Hals, weinte und lachte gleichzeitig. Dann sprang sie aus dem Bett und tanzte wie ein Kind durchs Zimmer. Anschließend lief sie rüber zu Stevie, um sie zu drücken.
Beim Frühstück lachten und redeten alle durcheinander. Um zehn Uhr machten sie sich auf den Weg ins Krankenhaus. Carole hatte die Augen geöffnet und betrachtete ihre Besucher.
»Hallo, Mom«, begrüßte Chloe ihre Mutter gut gelaunt, ging zu ihr und küsste sie auf die Wange. Carole wirkte bestenfalls überrascht. Allerdings war ihre Mimik noch stark eingeschränkt. Der Gesichtsverband war vor wenigen Tagen entfernt worden, aber der Schnitt hatte eine hässliche Narbe hinterlassen, die vermutlich bei jeder Bewegung schmerzte. Sie hatten sich bereits alle an den Anblick gewöhnt. Stevie wusste jedoch, dass Carole entsetzt wäre über ihr Aussehen. Jason hatte allerdings versichert, dass ein guter Schönheitschirurg das wieder in Ordnung bringen konnte. Und momentan war diese Narbe Caroles kleinstes Problem.
Carole lag auf dem Bett, beobachtete alles und drehte hin und wieder leicht den Kopf, um ihnen mit den Blicken zu folgen. Als Anthony sie zur Begrüßung küsste, sah sie ihn ebenfalls fragend an. Jason setzte sich neben das Bett und hielt Caroles Hand. Stevie stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt und lächelte Carole an, die sie jedoch gar nicht wahrzunehmen schien. Möglicherweise konnte sie ihren Blick noch nicht auf weitere Entfernungen einstellen.
»Du hast uns heute alle sehr glücklich gemacht«, sagte Jason zu seiner Ex-Frau und lächelte sie liebevoll an. Noch immer hielt er ihre Hand. Carole sah ihn ausdruckslos an. Es dauerte eine Ewigkeit, aber schließlich formten ihre Lippen ein einzelnes Wort.
»Mü … d … e.«
»Ich weiß, dass du müde bist, Liebes«, sagte er zärtlich.
»Aber du hast schon sehr lange geschlafen.“
»Ich liebe dich, Mom«, sagte Chloe, und Anthony wiederholte ihre Worte. Carole starrte die beiden an, als wisse sie nicht, was das bedeutet. Dann brachte sie mühsam wieder ein Wort hervor.
»Wa … ss … er.« Die Schwester führte ihr ein Glas an die Lippen. Das erinnerte Stevie an Anne Bancroft in dem Film Licht im Dunkel. Man musste tatsächlich ganz von vorn beginnen. Aber zumindest ging es jetzt in die richtige Richtung. Carole sagte nichts weiter, sprach niemanden mit Namen an, beobachtete einfach nur. Gegen Mittag gingen alle wieder. Carole wirkte erschöpft. Die einzigen beiden Wörter, die sie gesagt hatte, hatten fremd geklungen, als wäre es nicht ihre Stimme gewesen. Stevie vermutete jedoch, dass Carole noch heiser und wund war von dem Respirator. Caroles Augen wirkten riesig in dem blassen Gesicht. Sie hatte stark abgenommen. Diese Zartheit verlieh ihr jedoch eine eigentümliche Schönheit, als spiele sie die Mimi in La Bohème. Wie eine tragische Heldin lag sie dort, aber alle
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